Kapitel 1 - Teil 1

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-Bella-

Als ich sieben Jahre alt war, hat meine Tante versucht, mich zu töten. Ich saß in der Badewanne, nichtsahnend, welche düsteren Gedanken in diesem Moment in ihrem Kopf entstanden. Sie wusch mir die Haare, während ich nur Augen für die gelbe Gummiente hatte, die mir in der großen Badewanne Gesellschaft leistete. So merkte ich nicht, was sie vorhatte, bis es zu spät war. Ihre Hände umfassten meine kleinen Kinderschultern und plötzlich drückte sie mich unter Wasser. Mein kindlicher Geist war viel zu unschuldig, um auf Anhieb zu verstehen, was sie zu tun gedachte. Zunächst hielt ich es für ein Spiel, wobei Tante Judith kaum bis nie mit mir gespielt hatte. Vielleicht wollte sie mich auch nur gründlich waschen, dachte ich mir damals.

Wie hätte ich auch zur richtigen Schlussfolgerung kommen können? Die Welt der Kinder ist unbeschwert und ihrem Empfinden nach vollkommen sicher. Dort gibt es keine vorsätzliche Gewalt, keine tödliche Gefahr und selbst die Angst vor Monstern unter dem Bett ist schnell vergessen, wenn die Eltern vorgeben, das schreckliche Monster zu vertreiben. Nicht eine Sekunde hätte ich daran gedacht, dass meine eigene Tante mir wehtun wollte, doch genau das war ihre Intention. Als mir allmählich die Luft ausging, hörte das Spiel auf, Spaß zu machen. „Das reicht, Tante Judith! Ich kriege keine Luft!“, wollte ich empört schreien, doch schnell verstand ich, dass das unter Wasser nicht möglich war.

Meine Lunge gierte nach Luft und auch wenn ich die Lage noch immer nicht erfasst hatte, begann mein Körper, in instinktive Überlebensreflexe zu verfallen. Wild schlug ich um mich im verzweifelten Versuch, mich von Tante Judiths grausamen Griff zu befreien, aber ich war einfach zu schwach. Meine dürren Kinderärmchen hatten nicht die geringste Chance gegen die Kraft einer Erwachsenen, wobei es mich noch immer überrascht, wie stark Tante Judith in diesem Moment war. Wie besessen drückte sie mich weiter unter Wasser und ließ sich auch nicht von meinem panischen Zappeln irritieren. Meine Lunge schrie nun nach dem dringend benötigten Sauerstoff und ich war mir sicher, noch nie in meinem bisher kurzen Leben solche Qualen erfahren zu haben.

Schwärze drängte sich an die Ränder meines Blickfelds und ich drohte, das Bewusstsein zu verlieren, als ich endlich realisierte, was hier gerade geschah. Tante Judith versuchte, mich umzubringen! Sie wollte mich tatsächlich ertränken! Ich versank vollkommen in Panik und war nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Ich war noch zu jung, um die vollen Konsequenzen des Todes zu verstehen. Es handelte sich um einen dunklen Fleck in meinem Verständnis der Welt, den ich nicht so recht einschätzen konnte, doch eines wusste ich mit Sicherheit: Ich wollte nicht sterben!

Und dazu sollte es auch nicht kommen. Ich wusste nicht, was sie zum Umdenken bewegt hatte, aber plötzlich lockerte sich Tante Judiths Griff. Vielleicht war es das zappelnde Kind unter der Wasseroberfläche, das sie hatte weich werden lassen, oder aber ihre eigene gutbürgerliche Erziehung. Tante Judith war vieles, aber gewiss keine Mörderin. Sie hielt sich an gesellschaftliche Konventionen, an Regeln des Anstands, und wies einen unerschütterlichen Glauben an die Götter auf. Gab es denn eine größere Sünde als den Mord am eigenen Fleisch und Blut, um den Zorn der Götter auf sich zu ziehen?

Kaum hatte mich Tante Judith losgelassen, schoss mein Kopf durch die Wasseroberfläche und ich sog gierig die vom heißen Badewasser schwere Luft in meine Lunge. Trotz der Wärme hatte ein unkontrolliertes Zittern meinen Körper befallen, während der Schock meinen Verstand vollkommen lähmte. Tante Judith ging nicht auf den vorherigen Vorfall ein. Sie half mir aus der Wanne, wickelte mich in ein Handtuch und tat so, als hätte es sich um ein ganz gewöhnliches Bad gehandelt. Vorsichtig, gar ängstlich, sah ich ihr ins Gesicht und schreckte vor dem Ausdruck darin zurück.

Abwesend, geradezu apathisch, blickten ihre grünbraunen Augen vor sich hin. Sie schien einfach in die Ferne zu starren, ohne einen bestimmten Punkt mit ihrem erschreckend leeren Blick zu fixieren. Ihre Gesichtszüge waren erschlafft und ähnelten in ihrem Ausdruck denen einer Schaufensterpuppe. In diesem Moment sah Tante Judith gewiss nicht wie eine Frau aus, die versucht hatte, ihre eigene Nichte zu töten. Nichts Grausames oder Mörderisches fand sich in ihrer Mimik. Sie sah aus wie jemand, der aufgegeben hatte, der sich einer höheren Macht ergeben hatte.

Noch immer ängstigt mich dieser Ausdruck auf ihrem Gesicht, wann immer ich daran denke. Damals wie heute ist es mir unverständlich, was sie in diesem Moment empfunden haben muss. Was hatte meine Tante dazu bewogen, mich, ihre Nichte, in der Badewanne ertränken zu wollen? Nach diesem Mordversuch ging unser Leben überraschend normal weiter. Wir haben nie darüber gesprochen, was an diesem Tag passiert ist, haben einfach weitergelebt, als sei nie etwas geschehen. Ich war sieben Jahre alt gewesen. Das Erlebnis hatte mich verängstigt und nachhaltig verstört, doch das war wohl genau der Grund, weshalb ich die Erinnerung daran weitgehend verdrängt hatte. Unser Leben folgte den gewohnten Bahnen.

Hierzu sei gesagt, dass meine Beziehung zu Tante Judith nie besonders herzlich gewesen ist. Ich lebte bei ihr, seit ich denken konnte, seit meine Mutter bei meiner Geburt gestorben ist, um genau zu sein. Mein Vater soll einfach abgehauen sein. Niemand wusste etwas über ihn. Tante Judith hatte mich bei sich aufgenommen. Sie zog mich auf, doch geliebt hat sie mich nie, wenngleich ich diesen Gedanken lange nicht zulassen wollte. Dennoch war es mehr als offensichtlich. Es bestand jedoch ein gewaltiger Unterschied darin, ob man ein Kind nicht liebte oder ob man es töten wollte.

So sehr ich die Erinnerung auch zu ersticken versuchte, dieser schreckliche Tag lebte weiter, zumindest in meinen Albträumen. Der Vorfall beschäftigte mich. Wie könnte es auch anders sein? Ich verstand nicht, womit ich das verdient haben sollte, was ich Tante Judith denn getan hätte. Mir ist vollkommen unverständlich gewesen, weshalb sie versucht hatte, mich umzubringen…bis heute…

Verflucht - Der TodespaktWo Geschichten leben. Entdecke jetzt