Kapitel 22 - Teil 1

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-Cassie-

Zitternd rieb ich mir die Hände und steckte sie anschließend in die Taschen meiner dünnen Jacke. Als Bella und ich für unsere Reise ins Dämonenreich gepackt hatten, waren Wintersachen ganz unten auf der Prioritätenliste gestanden. Warum auch? Wir hatten Sommer und die Temperaturen waren dementsprechend hoch, auch im Dämonenreich, das sich letztendlich gar nicht so sehr vom uns Bekannten unterschied. Wie hätten wir auch darauf kommen sollen, dass wir uns letztendlich in einem Gebirge wiederfinden würden, um den heiligen Götterberg, den Kamiyama zu besteigen?

Wir hatten keine Mühen und Gefahren gescheut, um im Dämonenreich eine Lösung für mein Problem, meine unerwünschten Kräfte, zu finden, und jetzt führte uns die vielversprechendste Spur zurück zu den Menschen. Der Weg zum Kamiyama war beschwerlich gewesen, aber nach allem, was wir im Dämonenreich durchgemacht hatten, ließen wir uns auch davon nicht entmutigen. Die Grenzüberschreitung war dieses Mal sogar leichter gewesen, was eigentlich nicht der Fall sein dürfte.

So war die Mauer einzig und allein gebaut worden, um Dämonen von den Gebieten der Menschen fernzuhalten, doch das funktionierte alles andere als einwandfrei. Delia hatte uns zu einem Experten für Grenzschmuggel gebracht, der uns gegen eine großzügige Bezahlung verraten hatte, welcher wachestehende Soldat bestechlich war. Wir hatten dort erfahren, zu welchem Durchgangspunkt wir gehen mussten und wann der Soldat arbeitete. Der eigentliche Grenzübertritt vollzog sich reibungslos und überraschend einfach.

Der bestechliche Soldat wurde seinen Kollegen lange genug los, um unser Geld anzunehmen und uns durch die Sicherheitstür zu lassen. Er stellte keinerlei Fragen, was mir gerade recht war. Ich hatte zwar ohnehin Bella vorausgeschickt und mir eine Mütze aufgesetzt, um mich wenigstens ein wenig zu maskieren, aber wenn mich der Soldat erkannt hatte, sagte er zumindest nichts. Das wäre schließlich nicht gerade klug von ihm. Wenn er mich an meinen Vater auslieferte, der bestimmt schon eine große Suchaktion gestartet hatte, entlarvte ich ihn einfach als Verräter, der Dämonen gegen Bezahlung über die Grenze ließ.

Mein Vater wäre schockiert, dass solche Geschäfte überhaupt existierten, doch nach allem, was ich erfahren hatte, überraschte es mich nicht mehr. Da Dämonen genauso aussahen wie Menschen, konnten sie sich problemlos unter sie mischen. Manche von ihnen wollten das Menschenreich nur erkunden, andere ließen sich dort nieder und einige kamen nur, um Waren von einer Seite auf die andere zu schmuggeln.

So oder so, die Mauer war längst nicht so undurchlässig wie mein Vater und seine Parteikollegen annahmen. Für uns war das jedoch eine gute Nachricht, da wir so den vermeintlich schwersten Teil schon hinter uns hatten. Die nächsten Schritte waren deutlich simpler gewesen. Wir kauften uns Zugticket um Zugticket, um uns langsam zum Fuji-Gebirge vorzuarbeiten.

Das Gebirge lag weit im Nordosten des Menschenreichs, wobei wir die Hauptstadt großzügig umgingen. Dort hätten wir vermutlich eine schnellere und direktere Zugverbindung gefunden, doch das Risiko, auf meinen Vater zu treffen, war mir zu groß. Ich würde ihn noch früh genug sehen, aber jetzt würde er mich gewiss von meinem Vorhaben abhalten und das konnte ich nicht zulassen!

Wir nahmen also mehrere Umwege auf uns, übernachteten in kleinen Motels nahe der Bahnhöfe und erreichten so nach knapp einer Woche unser Ziel. Während dieser gemeinsamen Zeit wurde das Verhältnis zwischen Bella und mir nicht klarer. Der Kuss im Versteck des Sammlers war großartig gewesen und hatte sich definitiv richtig angefühlt, doch seitdem war nichts weiteres geschehen. Wir schliefen zwar immer noch zusammen in einem Bett – um Kosten zu sparen natürlich – aber dort war nichts Intimeres passiert. Auch einen zweiten Kuss hatte es bisher nicht gegeben.

Ich nahm an, dass unsere Lage gerade einfach zu verwirrend und überladen war. Wir waren nur knapp dem Tod entronnen, kurz nachdem Bella die Wahrheit über ihre Eltern erfahren hatte. Sie hatte ihre Kräfte entfesselt und erfahren, dass Delia ihre große Schwester war. Außerdem hatte sie Ryans Tod mitangesehen, was sie immer noch nicht überwunden hatte. Ich hingegen lebte in ständiger Anspannung und aufgeregter Erwartung, seit ich wusste, dass die Wächter Antworten auf meine Fragen hatten.

Bis das nicht geklärt und unsere Situation entwirrt wurde, konnten wir uns nicht der Frage stellen, wie es nun mit uns weitergehen sollte. Der Frage, was denn nun überhaupt zwischen uns war. Ich konnte so lange warten und nahm an, dass für Bella dasselbe galt. Wir hatten unser Ziel auch fast erreicht. Gestern hatten wir zum letzten Mal in einem Hotel am Fuß des Kamiyamas übernachtet, bevor wir heute morgen den Aufstieg begonnen hatten.

Der Götterberg war ein beliebtes Touristenziel, weshalb auch wir ohne Probleme als Touristen durchgingen. In einem Souvenirladen konnten wir uns glücklicherweise noch Handschuhe und Wollmützen kaufen, denn selbst im Hochsommer herrschten auf dem Kamiyama noch frische Temperaturen. Während ich nun zitternd dem beschilderten Wanderpfad folgte, bereute ich zutiefst, nicht auch noch eine gefütterte Winterjacke gekauft zu haben. Wer hätte ahnen können, dass es so kalt auf diesem verdammten Berg sein würde?

Plötzlich riss mich Bellas Stimme aus meinen Gedanken. „Hier gibt es wohl nicht zufällig eine Toilette, oder? Ich muss ziemlich dringend. Meinst du, ich könnte kurz…“, setzte Bella unsicher an und warf einen sehnsüchtigen Blick zur dichten Vegetation abseits des Wanderweges. „Klar, geh kurz zwischen die Büsche. Ist sowieso keiner in der Nähe, der es sehen könnte“, antwortete ich schulterzuckend und unterdrückte ein Grinsen.

Bella hatte echt die Blase einer Grundschülerin, was durch Nervosität noch gesteigert wurde. Ich konnte jedoch verstehen, dass sie nicht mit voller Blase vor die Wächter treten wollte. Wir hatten den Eingang zu ihrer Dimension schließlich fast erreicht. Bella ging also pinkeln, wobei sie betonte, dass sie extra weit weggehen würde. Das war aber beim besten Willen nicht nötig.

Wir waren auf dem Wanderweg noch keiner Menschenseele begegnet, obwohl der Kamiyama ein beliebtes Touristenziel war. Womöglich war die Jahreszeit schuld oder die Tatsache, dass wir bereits in den frühen Morgenstunden aufgebrochen waren. Ja, das musste es sein. Die wenigsten hatten wohl vor, in den frühen Morgenstunden den Berg zu besteigen, wenn die Luft noch besonders frostig war. Wie zum Beweis bildete mein Atem kleine Wölkchen, während ich auf Bella wartete.

„Gleich seid ihr da! Ist das nicht aufregend?“, ertönte auf einmal eine Stimme gleich neben mir. Ich schreckte herum und funkelte den Sprecher böse an. „Ich habe doch gesagt, du sollst mir nicht so einen Schrecken einjagen! Willst du, dass ich einen Herzinfarkt bekomme oder was?“, fuhr ich mein Gegenüber an, achtete aber darauf, meine Stimme gesenkt zu halten.

Ryan schenkte mir eines seiner schelmischen Lächeln, doch es wirkte etwas abgeschwächt im Vergleich zu früher. Generell war Ryan bleich, in seinen Augen fehlte der freche Glanz und mitten auf seiner Brust prangte ein großer, blutroter Fleck. So war er mir vor etwa einer Woche erschienen und so erschien er mir immer noch.

Verflucht - Der TodespaktWo Geschichten leben. Entdecke jetzt