Kapitel 3 - Teil 1

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-Bella-

 

Dein Vater war ein DämonEin Dämon…Dein Vater…Immer wieder hallte dieser eine Satz durch meinen Kopf. Mein Vater…ein Dämon…Als Tante Judith diese Worte ausgesprochen hatte, war ich kaum in der Lage gewesen, sie zu begreifen. Viel zu schrecklich war die Wahrheit, die sie ausdrückten, und die Schlussfolgerung, die unweigerlich darauf folgen musste. Wenn mein Vater ein Dämon war, dann bedeutete das für mich, dass…dass ich…Der Gedanke war nach wie vor zu absurd, um ihn wirklich an mich heranzulassen. So schien es auch Tante Judith gegangen zu sein, denn schließlich hatte sie lediglich gesagt: „Dein Vater war ein Dämon.“ Dabei wussten wir doch beide, was sie damit in Wahrheit hatte ausdrücken wollen.

„Dein Vater war ein Dämon und damit bist du eine Dämonin!“ Das hatte Tante Judith wirklich sagen wollen. Darum wollte sie mich nicht länger bei sich leben lassen, deshalb hatte sie damals versucht, mich umzubringen! Endlich ergab alles Sinn, doch ich konnte nicht behaupten, dass ich froh darüber wäre. Ich! Eine Dämonin! Wie konnte das überhaupt sein? Natürlich war ich nicht zu dumm, um die groben Zusammenhänge zu verstehen. Wenn mein Vater tatsächlich ein Dämon war, der meine arme, menschliche Mutter vergewaltigt hatte, war es aus einem genetischen Blickwinkel nur logisch, dass ich ebenfalls dämonisch war. Zumindest nahm ich das an. Ich hatte wenig Bildung, was die genetische Vermischung von Dämonen und Menschen anging, doch es erschien einleuchtend, dass sich die dämonische Seite durchsetzte.

Allerdings beantwortete das nur die Grundzüge des Geschehenen und ließ jede Menge Fragen offen. Wie war ein Dämon überhaupt so weit hinter die Grenze gelangt, ohne erkannt zu werden, und warum hatte meine Mutter sich entschieden, das unerwünschte Kind, also mich, zu behalten? Natürlich gab es immer noch hitzige Debatten über die moralische Bewertung von Abtreibungen, aber gerade im Falle einer Vergewaltigung war das doch nichts Verwerfliches? Wenn meine Mutter gewusst hatte, wer, beziehungsweise was, sich an ihr vergriffen hatte und somit auch, was zwangsläufig in ihr heranwachsen musste, warum hatte sie das Kind dann überhaupt bekommen? War es Gutmütigkeit gewesen? Nicht zu unterdrückende Gefühle für das heranwachsende Leben in ihr?

Aus meiner jetzigen Position konnte ich ihre damaligen Beweggründe nicht nachvollziehen, aber eigentlich war das momentan sowieso zweitrangig. Nicht weshalb ich eine Dämonin war, besaß gerade Relevanz, sondern dass ich eine war! Was sollte nun passieren? Wie sollte mein Leben weitergehen, nachdem dieses verhängnisvolle Geheimnis gelüftet war? Tante Judith musste meine wahre Identität jahrelang für sich behalten haben, doch würde das weiterhin der Fall sein? Generell verwirrte mich auch Tante Judiths Motivation, wobei ich ihre Beweggründe nun viel besser nachvollziehen konnte.

Selbstverständlich hatte sie versucht mich umzubringen! Sie hatte eine kleine Dämonin großgezogen, ein Monster, das früher oder später seine Kräfte erhalten würde. Sie hatte dabei zugesehen, wie ich heranwuchs, im festen Wissen, was einmal aus mir werden würde: Eine Dämonin, vielleicht sogar solch ein Monster wie mein Vater, der ihre arme, jüngere Schwester vergewaltigt hatte! Nur warf das die Frage auf, weshalb sie mich überhaupt verschont hatte. Damit spielte ich gar nicht auf den Mordversuch an, denn unabhängig davon, wer oder was ich war, Tante Judith war nicht dafür geeignet, zur Mörderin zu werden. Sie hatte es nicht über sich gebracht, weil sie nicht töten konnte, nicht, weil ihr etwas an mir lag.

Warum hatte sie es dann nicht auf dem einfachen Weg versucht? Sie hätte lediglich mein Geheimnis lüften müssen, dann hätte sich das ganze bestimmt von selbst gelöst. Die Menschen hassten die Dämonen und duldeten es grundsätzlich nicht, wenn sie die Grenze überschritten. Die Mauer, die unsere Welten voneinander trennte, war gut bewacht und Dämonen wussten, was ihnen blühte, wenn sie das Gebiet der Menschen betraten. Wie es sich bei dem Kind eines Dämonen und eines Menschen verhielt, wusste ich zwar nicht, aber mir schwante Übles. Der Hass gegenüber Dämonen war dermaßen stark, dass er bestimmt auch nicht vor Kindern Halt machte. Ein Dämonenkind konnte noch so harmlos sein, irgendwann würde es zu einem vollwertigen Dämonen heranwachsen und wäre somit eine Gefahr.

Ich hegte keinen Zweifel. Wenn Tante Judith die Wahrheit über mich erzählt hätte, wäre ich entweder über die Grenze zu meinesgleichen geschickt oder doch direkt getötet worden. Warum hatte sie es also nicht getan, wenn es doch so einfach gewesen wäre, mich loszuwerden? Spontan fiel mir nur eine Antwort darauf ein. Tante Judith hatte selbst erwähnt, dass sie es meiner Mutter zuliebe getan hatte. Sie hatte ihre kleine Schwester sehr geliebt und vermutlich hatte diese sie noch auf dem Sterbebett darum gebeten, sich um mich zu kümmern.

Das hatte Tante Judith in eine Zwickmühle gebracht. Einerseits hätte sie die heranwachsende Dämonin am liebsten ausgeliefert, aber sie wollte dem letzten Wunsch ihrer Schwester gerecht werden. Der Mordversuch war einem verzweifelten Impuls entsprungen, vermutlich dann, als sie das unschuldige Kind in der Badewanne gesehen hatte, das unbekümmert mit seiner Gummiente gespielt hatte, und sich erinnert hatte, wie viel Bösartigkeit sich hinter der unschuldigen Fassade versteckte. Sie hatte es als ihre Pflicht betrachtet, die Welt persönlich von der zukünftigen Plage zu bewahren, die sie im vollen Wissen aufzog und eines Tages darauf loslassen würde.

Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal so denken könnte, doch ich verstand es nun. Ich verstand, weshalb mich Tante Judith damals töten wollte, und um ehrlich zu sein…Vielleicht hätte ich an ihrer Stelle dasselbe getan…

Verflucht - Der TodespaktWo Geschichten leben. Entdecke jetzt