Kapitel 4 - Teil 1

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-Cassie-

Noch immer völlig erstarrt, lag mein Blick auf der Stelle, an der Bella gerade noch gestanden hatte. Sie war inzwischen weitergegangen und in einem Gang verschwunden, doch der soeben gesehene Anblick ließ mich einfach nicht los. Diese dunkle, beinahe schwarze Aura um Bella herum…Allein diese Tatsache ließ keinen Zweifel zu! Bella würde sterben…und zwar bald…Das war der schlimmste Teil meiner Fähigkeit. Zu sehen, dass jemandes Tage gezählt waren, dass diese Person bald sterben würde…

Es war furchtbar! Vor etwa einem Jahr mussten mir die Mandeln herausgenommen werden und ich war einige Tage im Krankenhaus gewesen. Was sollte ich sagen? Mehrere dieser dunklen, unheilvollen Auren waren mir begegnet und hatten den baldigen Tod der betroffenen Personen angekündigt. Diese wenigen Tage waren die reinste Hölle für mich gewesen und seit dem fürchtete ich mich davor, ein Krankenhaus auch nur zu betreten. Keinen gefährlicheren Ort gab es für meine verhasste Fähigkeit. Krankenhäuser waren voller Tod, wo man auch hinsah…

An einem Tag sah ich sie noch, Unfallopfer, die mit schweren Verletzungen zum Operationssaal geschoben wurden, krebskranke Menschen, mit denen es sichtlich zu Ende ging, und am nächsten Tag standen sie auch schon vor mir und teilten ihre Schmerzen und Erinnerungen mit mir. Mein einziges Glück war bisher gewesen, dass ich keinen von ihnen gekannt hatte, doch auch das sollte sich nun ändern. Bella hatte diese Aura, die ihren Tod ankündigte. Sie würde sterben…

Ich wusste nicht wann und auch nicht wie, aber das Ergebnis war unvermeidlich. Zumindest hatte ich es bisher noch nie erlebt, dass diese Aura wieder verschwand. Bella war noch jung und meines Wissens nach völlig gesund, weshalb die logischste Option ein Unfall wäre. Vielleicht lief sie später nach der Schule unachtsam über die Straße, wie so oft in Gedanken verloren, und wurde von einem Auto erfasst…Natürlich mochte ich Bella nicht sonderlich. Ich würde auch nicht behaupten, dass ich sie hasste, doch wir lästerten des Öfteren über sie. Ja, Bella war komisch und gewiss eine Person, über die man sich lustig machen konnte, aber im Grunde war sie mir egal.

Dennoch war es ein unschöner, geradezu belastender Gedanke, dass ihr Geist in wenigen Stunden schon vor mir stehen könnte. Trotz aller Lästereien, den Tod hatte ich ihr bestimmt nicht gewünscht! „Hey, Cassie! Geht’s dir gut? Was ist denn heute mit dir los? Du bist irgendwie abwesend“, erkundigte sich Tessa stichelnd, doch in ihren braunen Augen schimmerte die Sorge. Ich ließ mich nicht davon irritieren, dass Tessa heute schon zum zweiten Mal bewiesen hatte, dass unsere Freundschaft vielleicht doch nicht zweckmäßig war.

Meine Gedanken waren immer noch bei Bella, aber das würde ich Tessa bestimmt nicht erzählen. „Ich glaube, ich habe mein Handy im Klassenzimmer vergessen. Ich schaue schnell einmal nach“, präsentierte ich meinen Vorwand, den Tessa schulterzuckend hinnahm. Bevor ich überhaupt selbst verstand, was ich da tat, verließ ich die Cafeteria und ging in die Richtung, in die Bella verschwunden war. Lediglich mein Gefühl leitete mich, denn mein Verstand sagte mir immer wieder, wie sinnlos all das doch war.

Ich konnte ohnehin nichts an der tödlichen Vorausdeutung der Aura ändern. Bella würde sterben. Vermutlich bei einem Unfall, vermutlich heute, aber es könnte auch erst morgen oder am Tag darauf geschehen. Die Zeitangabe, die die Aura gab, war sehr vage. Allerdings ließ mich das hartnäckige Gefühl nicht los, dass etwas nicht mit ihr stimmte…Mehr als normalerweise nicht mit Bella stimmte. Da war etwas in ihren Augen gewesen, etwas zutiefst Verstörtes und Beängstigendes, das – wenn ich es mir recht überlegte – über den Terror einer mündlichen Prüfung hinausging.

Es war nur ein Gefühl, eine vage Ahnung, die sich nicht greifen ließ, aber ich wusste meine innere Unruhe nicht anders zu befriedigen, als ihr zu folgen. Die Suche nach Bella gestaltete sich gar nicht einmal so schwierig. Ich hatte schließlich beobachtet, in welchen Gang sie abgebogen war, und in der Mittagspause befanden sich die meisten Schüler ohnehin in der Aula, der Cafeteria oder draußen. Ende Juli trieben sich generell wenige im Schulgebäude herum und so standen die meisten Klassenzimmer leer. Alle bis auf eines…

Verflucht - Der TodespaktWo Geschichten leben. Entdecke jetzt