-Bella-
Kaum hatten wir Flüche und Banne verlassen, beschleunigten sich meine Schritte. Das bunte Getümmel auf den Straßen machte mich noch immer nervös, doch das war gerade nebensächlich. Die Umgebung selbst schien um mich herum zu verschwimmen, während ich nur noch ein einziges Ziel kannte: Abstand zwischen mich und diesen Laden zu bringen. „Hey, Bella! Wo willst du hin?“, fragte Cassie verwirrt, als ich endlich anhielt.
Wir waren auf einem freien Platz angekommen, in dessen Mitte ein großer Brunnen stand. Ohne groß nachzudenken, lief ich zu besagtem Brunnen und setzte mich auf die Begrenzungsmauer. „Ich weiß, wir haben eine neue Adresse, zu der du unbedingt willst, aber können wir kurz innehalten und das Geschehene verarbeiten? Das war ganz schön viel auf einmal“, schlug ich mit einem tiefen Seufzen vor.
„Was denkst du, wie es mir geht?“, entgegnete Cassie bissig. „Ich habe gerade erfahren, dass es kein Fluch ist, der mir die letzten zwei Jahre zur Hölle gemacht hat! Ich muss akzeptieren, dass etwas anderes nicht mit mir stimmt und wir noch keine Ahnung haben, wie und ob man das überhaupt wieder in Ordnung bringen kann!“ In Ermangelung einer Antwort darauf, schwieg ich. Mir war bewusst, dass jegliche beschwichtigenden Worte Cassie nur wütender machen würden. Ich wusste genauso wenig wie sie, wie wir ihr Problem lösen konnten, aber die Dämonin, deren Adresse wir erhalten hatten, vielleicht.
Cassie stieß ein tiefes Seufzen aus und ließ sich neben mir auf der Brunnenmauer nieder. „Tut mir leid, dass ich dich so angefahren habe. Du kannst ja auch nichts dafür“, entschuldigte sie sich dann zu meiner Verwunderung. „Diese neuen Informationen waren auch für mich ganz schön aufwühlend…Die Aussicht, diese…Fähigkeiten für immer zu behalten, ist so grausam, dass ich gar nicht daran denken möchte. Ich wüsste nicht, ob ich das auf Dauer aushalte oder…“
Cassie ließ den Satz unvollendet, doch ich konnte mir vorstellen, worauf sie hinauswollte. Dauerhaft die Geister kürzlich Verstorbener zu sehen und ihre letzten Momente durchleben zu müssen, würde wohl auch den stärksten Geist irgendwann in den Wahnsinn treiben. Wenngleich Cassie in der Vergangenheit nie sonderlich nett zu mir gewesen war, wünschte ich ihr dieses Schicksal keineswegs.
Vielmehr wirkte sie schon jetzt wie eine ganz andere Person. Von der arroganten, beliebten Jahrgangsbesten, die Außenseiter wie mich die gesamte Schulzeit wie Dreck unter ihren Füßen behandelt hatte, war wenig übriggeblieben. Die Veränderung der Umgebung, der Umstände, hatte uns beide aus unseren gewohnten Rollen gerissen. Im Dämonenreich waren wir beide Fremde und konnten uns weder Hochmut noch soziale Isolation leisten.
Wir mussten zwangsläufig zusammenarbeiten und das funktionierte bisher überraschend gut. Ich hätte es nie für möglich gehalten, ausgerechnet mit Cassie zwei Tage in einer fremden Stadt zu verbringen und mich dabei so wohl zu fühlen. Nachdem ich immer noch schwieg, musterte mich Cassie neugierig und ergriff erneut das Wort.
„Wie geht es dir damit? Also, zu wissen, dass die Wächter deine Kräfte versiegelt haben?“, hakte sie freundlicher nun nach. Überrascht, dass sie sich nach meiner Befindlichkeit erkundigte, musste ich erst darüber nachdenken. „Es verwirrt mich vor allem. Ich meine, warum sollten die Wächter das tun? Sind meine Kräfte so schlimm, dass sie sie unterdrücken müssen, oder liegt es daran, dass ich ein halber Mensch bin? Schließlich erlauben sie offiziell keine Dämonen im Menschenreich. Vielleicht haben sie mir deshalb die Kräfte genommen. Meinst du, es ist richtig, dass ich sie zurückwill?“, gab ich meinem Gefühlschaos Ausdruck, was Cassie wiederum nachdenklich stimmte.
„Natürlich ist das richtig! Es sind deine Kräfte und du hast ein Recht darauf, sie zurückzufordern! Außerdem wirst du ja nicht ins Menschenreich zurückkehren, zumindest nicht dauerhaft…“, argumentierte Cassie, wobei sie am Ende immer unsicherer wurde. Sie vermied, das Offensichtliche auszusprechen, wobei wir doch beide wussten, dass ich am Ende dieser Reise sterben würde. Cassie hatte es selbst gesagt: Es war unausweichlich…
Mich beschlich die Sorge, dass sie es doch nicht durchziehen würde, dass Cassie am Ende nicht in der Lage sein würde, mich zu töten. Doch ehrlich gesagt, wollte ich selbst nicht allzu genau darüber nachdenken, weshalb ich mich einem anderen Thema zuwandte. „Hast du auf die Preise dieser Dämonin geachtet? Wir waren uns ja unsicher beim Wechselkurs, aber wir dürften genug Geld dabei haben“, wechselte ich auf ein unverfängliches Thema, um uns beide ein wenig abzulenken.
„Ja, ich glaube, wir haben mehr als genug Geld dabei“, antwortete Cassie und zog den prall gefüllten Geldbeutel aus dem Rucksack. „Das reicht locker, um jemand anderen zu finden, der dein Siegel löst, und auch für welche Dienste ich auch immer benötige.“ Bei Cassies letzter Aussage wurde ich hellhörig. „Meinst du echt, wir finden einen anderen Dämonen, der mein Siegel löst? Die Verkäuferin hat doch gesagt, dass sie kein Siegel der Wächter lösen darf. Das wird für alle Dämonen hier gelten“, hakte ich irritiert nach, worauf mich Cassie mit einem amüsierten Lächeln bedachte.
„Du gibst echt viel zu schnell auf, hat dir das schon einmal jemand gesagt? Nur weil diese Dämonin zu große Angst vor den Wächtern hat, muss das nicht für alle gelten! Ich wette mit dir, irgendwo finden wir einen Dämonen, dessen Gier größer ist als die Angst, und der wird uns für den richtigen Preis dann helfen“, erklärte Cassie selbstsicher und ich bewunderte ihre Überzeugung. Sie hatte nicht Unrecht damit, dass ich schnell aufgab. Das war vor allem meinem Pessimismus geschuldet.
Cassie schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln, das ich zögerlich erwiderte. Kurz suchte ich ihren Blick, sah jedoch schnell wieder weg. Wenn ich nicht massive Schwierigkeiten damit hätte, den Blickkontakt zu halten, wäre mir in diesem Moment etwas ganz Entscheidendes entgangen. Als ich meinen Blick eilig von Cassies Gesicht abwandte, streifte ich damit den Rucksack, den sie neben sich abgestellt hatte. So sah ich, wie sich der Reißverschluss wie von Zauberhand bewegte und die Vordertasche geöffnet wurde.
„Cassie, der Rucksack!“, rief ich vor Überraschung erstarrt, worauf sich Cassie ruckartig umdrehte. Wir sahen gerade noch, wie der Geldbeutel in die Luft gehoben wurde und dann einfach verschwand. Hätte ich instinktiv reagiert und wäre über Cassies Schoß zum Rucksack gehechtet, hätte ich den Diebstahl aufhalten können, aber so mussten wir mitansehen, wie unser Geld vor unseren Augen verschwand.
Fassungslos sprang Cassie auf und riss den Rucksack vollständig auf, aber vom Geldbeutel fehlte jede Spur. „Nein! Unser Geld! Wo ist es hin?!“, rief Cassie verzweifelt. „Was für ein Zaubertrick ist das?!“ Ich konnte kaum klar denken. Was sollten wir nun tun? Alle Pläne und Überlegungen brachten nichts, wenn uns das Geld fehlte, um sie zu verwirklichen. Allerdings hatte keiner von uns damit gerechnet, dass wir Hilfe erhalten sollten.
„Der Dieb ist unsichtbar! Schnell!“, rief plötzlich ein junger Mann, der an uns vorbei in Richtung einer kleinen Gasse rannte. Völlig überrumpelt folgte ich ihm, während Cassie sich erst noch den Rucksack auf den Rücken warf, um den Rest unserer Sachen nicht auch noch zu verlieren. Es fühlte sich albern an, einem unsichtbaren Dieb hinterherzurennen und ich musste darauf vertrauen, dass uns der fremde Retter nicht zum Narren hielt.
Doch als wir die schmale Gasse betreten hatten, streckte der junge Mann Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand aus und plötzlich schoss ein greller Blitz daraus hervor. Der Blitz schien sein unsichtbares Ziel zu treffen und sogleich war das dumpfe Geräusch des Aufpralls zu hören, bevor der schlaksige Teenagerjunge am Boden sichtbar wurde. In seiner Hand hielt er noch…den Geldbeutel! Der hilfreiche Fremde trat zum gefassten Dieb und nahm ihm seine Beute ab.
„Ich hoffe, das ist dir eine Lektion! Man bestiehlt keine ahnungslosen Touristen! Hast du denn keine Angst vor der Gerechtigkeit der Wächter?“, belehrte er den jugendlichen Dieb, bevor er sich erstmals uns zuwandte. Cassie und ich waren immer noch ganz verblüfft. Während wir bisher noch bemängelt hatten, dass wir nichts von den Dämonenkräften gesehen hatten und uns deshalb nichts darunter vorstellen konnten, hatten wir nun gleich zwei Formen dieser Kräfte gesehen.
Der Teenager konnte sich tatsächlich unsichtbar machen, was für einen Taschendieb mehr als praktisch war, wohingegen der Fremde offenbar Blitze erzeugen und lenken konnte. Beides war überaus beeindruckend und machte mir einmal mehr bewusst, wie nutzlos ich ohne meine Kräfte war. Zu was ich wohl in der Lage wäre, sobald dieses lästige Siegel gelöst wäre? Nun war ich umso neugieriger darauf.
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Verflucht - Der Todespakt
FantasyIn einer Welt, in der Menschen und Monster gleichermaßen leben, scheint es keinen Zweifel an der Zuordnung von "gut" und "böse" zu geben. Durch eine feste Grenze getrennt, führen Menschen und Dämonen eine weitestgehend friedliche Koexistenz, doch de...