Ein genervtes Stöhnen entwich mir, als der vertraut grauenhafte Klang des Weckers meinen seligen Schlaf unterbrach. Noch im Halbschlaf griff ich nach meinem Smartphone und beendete das grausame Klingeln, doch der Wecker hatte seinen Zweck erfüllt. Ich war wach und erhob mich mühsam aus meinem warmen, weichen Bett. Nicht mehr lange…, sagte ich mir, als ich die morgendliche Routine hinter mich brachte. Ich konnte kaum meine Augen offen halten, während ich mich anzog, wobei es an ein Wunder grenzte, dass ich auf der Treppe nicht über meine eigenen Füße stolperte. Das wäre zumindest kein Wunder gewesen, denn Treppen herunterzufallen gehörte zu meinen größten Stärken.
Mit einem Seufzen ließ ich mich schließlich am Esszimmertisch nieder und umfasste mit meinen Händen die heiße Tasse, in der noch der Teebeutel schwamm. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich mir noch nichts Böses gedacht. Der Tag hatte wie jeder gewöhnliche Schultag begonnen, doch das sollte sich nun ändern. Mit gewohnt harter Miene trat Tante Judith an den Esszimmertisch, die Arme streng vor der Brust verschränkt. „Du weißt, welcher Tag heute ist?“, stellte sie mehr fest, als zu fragen. Ich stieß ein gedehntes Seufzen aus. Natürlich wusste ich, welcher Tag heute war. Heute war mein achtzehnter Geburtstag und ich war alles andere als in Feierlaune.
Ich hatte ohnehin keinen, der mit mir feiern konnte. Freunde hatte ich nie wirklich gehabt und auch Verwandtschaft gab es abgesehen von Tante Judith nicht. Meine Großeltern mütterlicherseits waren bereits verstorben und über die Familie meines Vaters wusste ich ebenso wenig wie über ihn selbst. So verband ich mit meinem Geburtstag eigentlich nur den unschönen Umstand, Jahr für Jahr älter zu werden. Viele Jugendliche freuten sich auf ihren achtzehnten Geburtstag, da er jede Menge neue Freiheiten ermöglichte, doch ich hatte mich schon seit Tagen davor gefürchtet.
Neben verlockenden Freiheiten sah ich die drohende Verantwortung, die sie beinhalteten. Ich war mir auch sicher, dass Tante Judith deshalb meinen Geburtstag ansprach und nicht, um mir zu einem weiteren verschwendeten Jahr zu gratulieren. Sie wollte mich bestimmt daran erinnern, dass ich nun eine vollkommen verantwortungsfähige Erwachsene war, die nicht länger ihr Alter als Ausrede benutzen konnte. Ich musste nun endlich wissen, was ich mit meinem Leben anfangen wollte, welches Studium oder welche Ausbildung ich nach meinem Abschluss aufnehmen wollte. Von nun an würde von mir erwartet werden, mein Leben selbst in die Hand zu nehmen.
Worauf sich andere womöglich freuten und überhaupt keine Schwierigkeiten damit hatten, bereitete mir schon seit langem Kopfschmerzen. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was ich mit meinem Leben anfangen sollte. Wo andere Leute bestimmte Stärken hatten, nach denen sie ihre Berufswahl richten konnten, hatte ich nur Schwächen. Ich war in manchen Dingen einigermaßen gut, aber in nichts so richtig, und allein der Gedanke an die Zukunft stürzte mich in Verzweiflung. Die Zukunft war für mich nur ein ungewisser, schwarzer Fleck, der mich von Grund auf ängstigte. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, wie ich erfolgreich einen Beruf ausübte, ein eigenes Haus hatte, vielleicht sogar eine Familie. All das erschien mir so unwahrscheinlich, so unerreichbar für jemanden wie mich! Wie sollte ich das jemals schaffen?
Die einzige Möglichkeit, wie ich nicht vollkommen wahnsinnig wurde, war, den Gedanken an die Zukunft mit aller Kraft zu verdrängen und sich stattdessen krampfhaft auf die Gegenwart zu konzentrieren. Immer nie weiter als einige Monate, allerhöchstens ein Jahr, vorausplanen, das war die Strategie, mit der ich gerade gut zurechtkam. Wirklich zielführend war das jedoch nicht und ich fürchtete mich bereits vor dem, was Tante Judith wohl als nächstes sagen würde. Doch ich hätte gar nicht falscher liegen können. So sehr ich mich bereits vor ihrem strengen Vortrag über Verantwortung gefürchtet hatte, ich ahnte nicht, dass es sehr viel schlimmer kommen sollte, schlimmer, als ich es mir jemals ausgemalt hätte.
„Du bist jetzt achtzehn und damit bin ich nicht länger verpflichtet, dich bei mir wohnen zu lassen. Ich will, dass du noch heute ausziehst“, erklärte meine Tante mit einer Härte, die ich noch nie bei ihr gehört hatte. Für einen Moment war es so, als würde die Welt um mich herum zum Stillstand kommen. Tante Judiths Worte, die so plötzlich, so überraschend gekommen waren, gelangten gar nicht erst in meinen vollkommen überforderten Verstand. Was hatte sie gerade gesagt? Ich sollte ausziehen? Woher kam das plötzlich? Ich wusste, dass wir nie eine besonders enge Beziehung gehabt hatten, aber war meine Anwesenheit denn solch ein Problem für sie? Dieses Haus im Vorort der Hauptstadt, das sie von ihren Eltern geerbt hatte, war mehr als groß genug für uns beide und eigentlich schon fast zu groß für eine alleinstehende Frau.
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Verflucht - Der Todespakt
FantasyIn einer Welt, in der Menschen und Monster gleichermaßen leben, scheint es keinen Zweifel an der Zuordnung von "gut" und "böse" zu geben. Durch eine feste Grenze getrennt, führen Menschen und Dämonen eine weitestgehend friedliche Koexistenz, doch de...