Das schockierende Gespräch hatte ein abruptes Ende gefunden. Ich hatte noch nicht einmal ansatzweise verarbeitet, was mir Tante Judith eröffnet hatte, als es auch schon Zeit wurde, zur Schule zu gehen. Schule! Als ob so etwas Banales noch relevant wäre, wenn ich jetzt um mein schlimmstes Geheimnis wusste! Was brachte es noch, in die Schule zu gehen?! Ich war eine Dämonin, Tante Judith warf mich heraus und das kleine Bisschen, was ich an Zukunftsaussichten besessen hatte, lag in Trümmern! Dennoch hatte Tante Judith darauf bestanden, dass ich zur Schule ging und die letzten zwei Tage den Schein des Alltäglichen aufrechterhielt. Wenn ich heute noch meine mündliche Prüfung hinter mich brachte, erhielt ich morgen bei der Abschlussfeier mein Zeugnis und dann wäre das Thema Schule ein für alle Mal abgeschlossen.
So hatte die Aufklärung enden müssen, damit ich rechtzeitig zu meiner Prüfung kam, aber ich hatte wenig Hoffnung, dass Tante Judith noch weiter mit sich reden ließ. Sie hatte sich mehr als klar ausgedrückt. Sobald ich von der Schule zurückkehrte, packte ich meine Sachen und musste verschwinden. Wie es danach weitergehen sollte, interessierte sie wenig. Offensichtlich war Tante Judith der Ansicht, ihre Schuldigkeit gegenüber meiner Mutter erfüllt zu haben und nun keine Verantwortung mehr für mich zu tragen. Ich war achtzehn und wenn ich nun am Leben scheiterte, war das ganz allein meine Schuld.
Allerdings verdrängte ich den schrecklichen Gedanken an meine ungewisse Zukunft mit aller Kraft, während ich mich ein letztes Mal dem Schulalltag hingab. Na ja, von Alltag konnte kaum die Rede sein, denn außer den mündlichen Prüfungen und der Planung der Abschlussfeier gab es für die Schüler der Abschlussklasse nichts mehr zu tun. Meine mündliche Prüfung war die reinste Katastrophe. Alles, was ich in den letzten Wochen sorgfältig vorbereitet hatte, fiel in sich zusammen, als ich vor den Prüfern stand. Ich hasste es, vor Leuten zu sprechen, und hatte mich demnach schon lange vor der mündlichen Prüfung gefürchtet, aber das war gar nicht einmal das Hauptproblem. Jegliches fleißig gelernte Schulwissen hatte meinen Kopf verlassen, um der grausamen, unbegreifbaren Wahrheit Platz zu machen.
Ich konnte an nichts anderes denken, als an das, was mir Tante Judith vor nicht einmal einer Stunde eröffnet hatte. Was brachte diese Prüfung schon? Ich war eine Dämonin! Meine Noten, mein Abschluss…all das spielte nun keine Rolle mehr, denn das Leben, wie ich es bisher gekannt hatte, war ohnehin vorbei! Meine Gefühlswelt war ein einziges Schlachtfeld. Aufgewühlt und abgelenkt, wie ich nun einmal war, stammelte ich offensichtlich falsche Antworten zusammen, und verließ den Klassenraum letztendlich mit gesenktem Kopf. Ich wagte es nicht einmal, den Prüfern in die Augen zu sehen. Einerseits weil mich meine fürchterlich schlechte Prüfung beschämte, andererseits da ich mich davor fürchtete, was sie in meinen Augen sehen könnten.
Seit ich wusste, dass ich eine Dämonin war, fürchtete ich bei jeder Person, der ich begegnete, sie könnte die Wahrheit entdecken. Das war völliger Unsinn, denn abgesehen von dem Siegel, das ich unter einer dünnen Jacke versteckte, hatte ich mich optisch nicht verändert. Trotzdem blieb die Furcht, entlarvt zu werden. Nicht einmal unbedingt, weil ich dem Untergang geweiht wäre, wenn das geschehen sollte. Was ich wirklich mit allen Kräften verhindern wollte, war, dass die Menschen anklagend auf mich zeigten und mich voller Abscheu betrachteten. Ich wollte nicht der dämonische Eindringling sein, nicht der abartige Freak, den sie alle verachteten!
Dabei war ich bereits mein ganzes Leben eine Außenseiterin, im Grunde ein Freak, gewesen…Von der Grundschule an war es mir überaus schwer gefallen, Freunde zu finden. Ich war schüchtern und niemals die erste, die auf jemanden zuging. Immer konnte ich beobachten, wie sich Grüppchen bildeten, zu denen ich jedoch nie hinzustoßen durfte. War es die mangelnde Eigeninitiative oder der Fakt, dass mich die anderen als komische stille Einzelgängerin sahen, letzten Endes lief es auf dasselbe hinaus. Ich war schon immer allein gewesen. Seit meiner Geburt, seit meine Mutter an jenem grausamen Tag gestorben war, war ich vollkommen allein gewesen.
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Verflucht - Der Todespakt
FantasyIn einer Welt, in der Menschen und Monster gleichermaßen leben, scheint es keinen Zweifel an der Zuordnung von "gut" und "böse" zu geben. Durch eine feste Grenze getrennt, führen Menschen und Dämonen eine weitestgehend friedliche Koexistenz, doch de...