Kapitel 2 - Teil 1

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-Cassie-

Mit einem Anflug von Melancholie betrat ich das vertraute Gebäude. Ein buntes Stimmengewirr schlug mir entgegen und gerade noch rechtzeitig konnte ich beiseitetreten, bevor ein Kind von vielleicht zehn oder elf Jahren in mich hineingerannt wäre. Das würde ich bestimmt nicht vermissen! Ich warf dem vermeintlichen Fünftklässler einen vernichtenden Blick zu, der seine Wirkung nicht verfehlte. Mit einem ängstlichen Aufblitzen in den Augen rannte der jüngere Schüler zur Gruppe der Gleichaltrigen zurück, offensichtlich peinlich berührt, dass er beinahe eine Schülerin der Abschlussklasse umgerannt hätte. Gut so! Soll er lernen, besser aufzupassen!, dachte ich mir voller Genugtuung, als ich meinen Weg durch die Schulflure fortsetzte.

Ich würde die vertrauten Gänge nur noch einige wenige Male zu Gesicht bekommen, bevor ich die Schule hinter mir ließ und den nächsten Abschnitt meines Lebens begann. Irgendwie stimmte mich dieser Gedanke traurig, wenngleich ich auch voller Erwartung auf mein bevorstehendes Studium blickte. Mit meinen beinahe perfekten Noten war es mir möglich, das heiß begehrte Psychologiestudium aufzunehmen, und ich hatte sogar schon einen festen Studienplatz erhalten! Eigentlich könnte ich kaum glücklicher über diese vielversprechenden Zukunftsaussichten sein, doch die leichte Traurigkeit, das Vertraute hinter sich zu lassen, die sanfte Melancholie des Abschieds, blieb erhalten.

Davon ließ ich mir jedoch nichts anmerken, als ich unter den herumstehenden Leuten bekannte Gestalten entdeckte und direkt auf sie zusteuerte. „Ah, Cassie! Bist du heute auch noch einmal gekommen?", fragte Emily sofort und ich konnte nicht anders, als skeptisch eine Augenbraue hochzuziehen. „Habe ich doch geschrieben!", antwortete ich lediglich, womit eigentlich alles gesagt war. Die schriftlichen Prüfungen waren alle geschrieben und benotet, sodass in diesen finalen Schultagen nur noch die mündlichen übrigblieben. Generell musste jeder Schüler der Abschlussklasse eine mündliche Prüfung abhalten, wobei die Termine auf die ganze Woche verteilt waren. Ich war eigentlich schon gestern an der Reihe gewesen und hatte natürlich auch in der mündlichen Prüfung eine gute Note erreicht, doch ich war heute trotzdem in die Schule gekommen, um meinen Freundinnen seelischen Beistand zu leisten.

Allerdings schien Emily in Gedanken gerade nicht bei ihrer bevorstehenden Prüfung zu sein. „Hast du es schon mitbekommen, Cassie? Anna und Logan haben sich scheinbar getrennt! Und das so kurz vor der Abschlussfeier! Mit wem wird Anna jetzt wohl hingehen? So kurzfristig findet sie bestimmt keine Begleitung mehr. Jetzt, wo Logan wieder zu haben ist, bereue ich fast, dass ich Matt zugesagt habe, aber es wäre wohl unfair, ihn kurzfristig sitzenzulassen. Was meinst du eigentlich dazu?", plapperte Emily einfach drauflos. Um ehrlich zu sein, hörte ich nur mit halbem Ohr zu, da mir der neuste Schulklatsch kaum gleichgültiger sein könnte. Bald würde ich einen Großteil dieser Leute ohnehin nie wiedersehen! So hatte ich auch Emilys Frage am Ende überhört, doch Tessa antwortete an meiner Stelle.

„Ach, die beiden haben sowieso nicht zueinandergepasst!", kommentierte sie abwertend, bevor sich ihr gelangweilter Blick auf mich richtete. „Emily hat mich bequatscht, so früh zu kommen, aber eigentlich ist meine Prüfung erst nach der Mittagspause. Setzen wir uns in ein leeres Klassenzimmer, während Emily ihre Prüfung hat?" Ich stimmte abwesend zu, hoffte jedoch, dass Tessa nicht weiter über die Beziehungsprobleme unserer Klassenkameraden reden wollte. Nicht, dass ich mich schlecht dabei fühlte, über andere zu lästern, aber auf Dauer war es vor allem ermüdend, sich nur mit den Leben anderer zu befassen. Emily schien in Gedanken aber immer noch bei der morgigen Abschlussfeier zu sein.

„Hast du dich jetzt entschieden, mit wem du hingehst, Cassie?", hakte sie eifrig nach, was ich mit einem genervten Seufzen quittierte. „Mit Sam", antwortete ich schulterzuckend. Als beliebtes und unbestreitbar schönes Mädchen waren die Typen quasi Schlange gestanden, um mein Date für den Abschlussball zu sein. Ich hatte mich letztendlich für Sam entschieden, weil er ebenfalls recht beliebt war und wir zudem gut nebeneinander aussehen würden. Eine längere Beziehung wollte ich bestimmt nicht mit ihm eingehen. Ich war zwar immer einmal wieder mit einem Jungen zusammen gewesen, doch keine dieser Beziehungen hatte einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Einen Freund zu haben, hatte sich bisher immer nur wie ein Statussymbol angefühlt. Von dieser hochangepriesenen Liebe war dabei keine Spur gewesen. Aber ehrlich gesagt, hatte ich nicht einmal das Gefühl, dass ich Lust auf eine ernsthafte Beziehung mit Gefühlen und all diesen Kram hatte.

Wir setzten unser überaus oberflächliches Gespräch noch ein wenig fort, bis Emily zu ihrer Prüfung musste. Wie angekündigt, machten Tessa und ich uns auf die Suche nach einen leeren Klassenzimmer, wo wir das Gespräch fortsetzen konnten. Insgeheim hoffte ich fast darauf, dass Tessa noch einmal für die Prüfung lernen würde, und ich somit meine Ruhe hätte, doch das wäre wahrscheinlich zu schön, um wahr zu sein. Tessa ging noch schnell auf die Toilette, während ich bereits ein scheinbar leeres Klassenzimmer überprüfte. Es machte nicht den Eindruck, dass dort demnächst Unterricht stattfinden würde. Ich drehte mich noch einmal um, um mich zu vergewissern, dass keine Schüler oder Lehrer in der Nähe waren, dann betrat ich das Klassenzimmer. Zumindest wollte ich das gerade tun und setzte einen ersten Schritt hinein, als ich sogleich vor Schreck zusammenzuckte.

„Hey, pass doch auf, wo du hinläufst!", fuhr ich mein Gegenüber instinktiv an, in das ich fast hineingerannt wäre. Erst dann fielen mir die Unstimmigkeiten auf. Der Mann vor mir war zu alt, um ein Schüler zu sein, doch es handelte sich ebenfalls um keinen Lehrer, den ich kannte. Generell erschien es mir unwahrscheinlich, dass ein Lehrer so gekleidet war. Der Mann, der zu alt für einen Schüler war, trug zerschlissene Jeans und eine Lederjacke, doch das war es nicht, was mir augenblicklich das Blut in den Adern gefrieren ließ. Ich war mir vollkommen sicher gewesen, dass der Raum leer war, als ich noch vor wenigen Sekunden hineingesehen hatte...

Mit einem Schlag wurde mir klar, was ich bisher völlig übersehen hatte. Vermutlich wollte ich es nicht wahrhaben... „Du bist gar nicht wirklich hier...Du bist..." Tot...Dieses letzte Wort wollte mir einfach nicht über die Lippen gehen, doch das änderte nichts an seinem Wahrheitsgehalt. „Meine Familie...Sie sollen wissen...dass es mir leid tut...Ich war unvorsichtig...Leichtsinnig...", stammelte der Mann mit Tränen in den Augen. Er wusste genau, wie es um ihn stand, was unweigerlich geschehen sein musste. Das war ein Phänomen, dass ich schon oft beobachtet hatte. Sie wissen es immer...Manchmal auch nur intuitiv, aber wenn sie vor mir stehen, wissen sie, dass sie tot sind...

Bevor ich auch nur ein weiteres Wort hervorbringen konnte, überbrückte der tote Mann den verbleibenden Abstand zwischen uns und umfasste meine Schultern mit festem Griff. Ich unterdrückte einen Aufschrei, als es mich ohne Vorwarnung überkam. Plötzlich war ich dort, auf einem Motorrad, und raste mit einer beängstigenden Geschwindigkeit über die Landstraße. Ich trug weder Schutzkleidung noch einen Helm, was mit dem bisherigen Wissen zu einer eindeutigen Schlussfolgerung führte. Ich konnte bereits ahnen, was als nächstes passieren würde, doch trotzdem spürte ich die anfängliche Überraschung und das intensive Stechen der Panik, als ich in einer besonders engen Kurve die Kontrolle über mein Motorrad verlor. Die Panik konnte nur den Bruchteil einer Sekunde angedauert haben, bevor sie von einer viel stärkeren Empfindung abgelöst wurde.

Grenzenloser Schmerz explodierte in meinem Kopf und für einen schier endlosen Moment, dominierte er jede Zelle meines Körpers. Da war nichts außer Schmerz. Meine anderen Sinneseindrücke gingen vollkommen darin unter; die Welt selbst verlor sich im grenzenlosen Schmerz. Dann war der Moment vorbei, der in Wahrheit nur Sekundenbruchteile gedauert haben musste, und ich erwachte keuchend und mit rasendem Herzen im vertrauten Klassenzimmer. Unkontrolliert liefen die Tränen über meine Wangen, während der furchtbare Schmerz in meinem Kopf nachhallte. Sein Schmerz...Seine Erinnerung...

Das, was ich soeben miterlebt hatte, waren die letzten Momente im Leben dieses armen Mannes gewesen, seine letzte Erinnerung, bevor er...Obwohl ich den Prozess schon so viele Male durchlebt hatte, fiel es mir noch immer schwer, diesen Gedanken zu vollenden. Doch das änderte nichts am Sachverhalt. Der Mann war tot und ich hatte soeben gesehen, oder besser gesagt, gespürt wie er gestorben war.

Verflucht - Der TodespaktWo Geschichten leben. Entdecke jetzt