Kapitel 7 - Teil 2

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„Da vorne ist etwas!“, rief Cassie plötzlich und riss mich damit aus meinen düsteren Gedanken. Ein wenig desorientiert folgte ich ihrem Blick und erstarrte noch im selben Moment vor Überraschung. Das, was sich dort in der Ferne abzeichnete, waren tatsächlich Häuser! Mehrere Häuser, vielleicht ein ganzes Dorf. Natürlich handelte es sich um genau das, was wir erwartet hatten, weshalb die Überraschung eigentlich unangebracht erschien, aber nach so langem Umherwandern hätten wir fast nicht mehr damit gerechnet, auf irgendwelches Leben zu treffen.

Wer hätte schließlich wissen können, ob die Zivilisation der Dämonen überhaupt noch existierte, wenn sie nie einer zu Gesicht bekommen hatte? Doch offensichtlich waren die Dämonen mehr als ein Mythos, denn wir näherten uns einem ihrer Dörfer! Ich wechselte einen bedeutungsvollen Blick mit Cassie. Jetzt wurde es ernst! In wenigen Minuten würden wir auf die ersten Dämonen treffen und dann würde sich entscheiden, ob unsere Mission wirklich eine Chance hatte oder schon nach wenigen Stunden scheiterte.

Ich war seltsam nervös dafür, dass auch der Tod ein willkommener Ausgang für mich war, und sah auch Cassie neben mir an, dass es nicht besser um sie stand. Es war auch vorneherein eine völlig lebensmüde Idee gewesen, einfach so in ein Dorf voller Dämonen zu spazieren, aber wir hatten wohl keine Wahl. Vorsichtig sahen wir uns um, als wir die ersten Häuser erreichten. „Bis jetzt sieht es eigentlich aus wie ein normales Dorf. Die Gebäude sind bei uns auch nicht anders, aber das kann täuschen. Wir sollten auf der Hut sein“, kommentierte Cassie, der man ihre Anspannung deutlich anhörte.

Ich murmelte einige Worte der Zustimmung, schenkte Cassie aber kaum Beachtung. Voller Faszination musterte ich die schlichten, ländlichen Häuser. Darin lebte also…meinesgleichen. Ob so auch mein Vater gelebt hatte? Es war das erste Mal, seit wir die Grenze überquert hatten, dass ich an ihn dachte. Ich wusste nichts über meinen Vater, außer dass er ein Dämon war und meine Mutter vergewaltigt hatte. Tante Judith hatte mit keinem Wort erwähnt, ob er noch unter den Lebenden weilte oder nicht. Nicht, dass ich ihn treffen wollte…

Nach dem, was er meiner Mutter angetan hatte, musste er ein grausamer Mann sein, eine Bestie. Es war nur zu hoffen, dass nicht alle Dämonen animalisch und triebgesteuert waren. Momentan bestand unsere Hoffnung darin, dass sie zumindest einen Funken Vernunft besaßen und mit sich reden ließen. Nur so konnten wir jemanden finden, der Cassies Fluch aufheben konnte. Im Grunde war es ein Schuss ins Blaue. Wir wussten nicht, wie die Dämonen waren und ob sie uns helfen konnten, aber wegen der reinen Möglichkeit dessen waren wir hierher gekommen.

Bisher waren wir noch keinen Dämonen begegnet, doch das konnte nur eine Frage der Zeit sein…Noch während ich diesen Gedanken hegte, drangen wir weiter ins Dorfinnere vor und plötzlich… „Das kann nicht sein!“, rief ich vielleicht eine Spur zu laut aus, weshalb mir Cassie einen warnenden Blick zuwarf. Allerdings war sie selbst viel zu perplex, um mich in Deckung zu ziehen oder ähnliches. Auf einer freien Fläche zwischen den Häusern, standen einige Dämonen oder zumindest etwas, das ich für Dämonen hielt.

Denn die einzige andere Option wäre zu abwegig, viel zu absurd, um möglich zu sein. Es war einfach unmöglich, dass sich im Reich der Dämonen so viele Menschen befanden, die dann noch so sorglos miteinander redeten. Nein, das konnte nicht sein…Wenn nicht alles, das wir wussten, auf vollkommen falschen Annahmen beruhte, wenn die Mauer nicht einfach nur Menschen von anderen Menschen abtrennte, dann musste es sich bei den Wesen vor uns um Dämonen handeln!

Aber…sahen Dämonen wirklich so aus? Diese Wesen vor uns waren von Menschen optisch nicht zu unterscheiden. Sie sahen vollkommen menschlich aus! Das widersprach so ungefähr allem, was wir bisher über Dämonen gehört hatten! Dämonen sollten animalisch und bedrohlich aussehen, wie echte Monster eben! War denn alles, was uns erzählt worden war, falsch? Waren das alles nur abschreckende Geschichten und furchteinflößende Märchen gewesen?

Natürlich hatte seit Jahrzehnten keiner mehr einen Dämon zu Gesicht bekommen, aber es gab doch Überlieferungen! Berichte von vor über hundert Jahren, in denen die Leute ihre Begegnung mit Dämonen beschrieben hatten! Wenn das wirklich die Wahrheit sein sollte, fühlte ich mich verarscht! Selbstverständlich konnte nicht nur das Optische furchterregend sein. Die Dämonen sollten außerdem zerstörerische Kräfte haben, gegen die Menschen chancenlos waren, aber was, wenn auch das reichlich übertrieben, schlichtweg erfunden war?

Es fühlte sich an, als hätte dieser Anblick gereicht, um mein Weltbild in seinen Grundfesten zu erschüttern, aber noch war es zu früh, um voreilige Schlüsse zu ziehen. Vielleicht war es trotz aller Abwegigkeit möglich und diese menschlich aussehenden Wesen waren tatsächlich Menschen, die aus irgendeinem Grund im Reich der Dämonen lebten. Meine letzten Hoffnungen, dass diese Möglichkeit tatsächlich der Fall war, sollten zunichtegemacht werden, als uns die Blicke der Personen fanden.

Zuerst verengten sich ihre Augen skeptisch, doch dann erfasste uns ein Windhauch und veränderte die Situation drastisch. Entsetzt rissen die erschreckend menschlichen Gestalten die Augen auf und wechselten alarmierte Blicke, bevor sie wieder uns fixierten. „Das ist ein Mensch!“, rief einer der Dämonen und zeigte auf Cassie.

Verflucht - Der TodespaktWo Geschichten leben. Entdecke jetzt