Kapitel 21 - Teil 2

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Jetzt ergab alles Sinn! Warum Delia von Anfang an so interessiert an mir gewesen war, warum sie dieselben Kräfte hatte wie ich! Deshalb ging Delia das Schicksal meiner, nein, unserer Eltern so nahe! Deshalb wusste sie so gut über die damaligen Ereignisse Bescheid! Delia war meine große Schwester! Eine gewisse Familienähnlichkeit war schließlich auch da. Sie hatte ebenfalls lange, schwarze Haare und diesen schrecklich bleichen Teint. Nur war Delia ein gutes Stück größer als ich und hatte diese beunruhigenden, aber gleichzeitig faszinierenden, schwarzen Augen.

Wobei…Mit etwas Verspätung fiel mir ein, dass der Mann auf dem Foto, unser Vater, ebenfalls schwarze Augen gehabt hatte. War es nicht vielleicht sogar offensichtlich gewesen? Nein, es war gewiss nicht offensichtlich gewesen, so überrascht, wie ich jetzt war. Es gab so viele Fragen, die ich Delia stellen wollte, doch vor allem eine brannte mir auf der Zunge. „Warum wurdest du nicht zu Tante Judith geschickt? Ich meine, nach dem Tod unserer Eltern“, wollte ich von ihr wissen, während in meinem Kopf die herrlichsten Fantasien zum Leben erwachten.

Wie anders wäre meine Kindheit verlaufen, wenn Delia bei mir gewesen wäre? Wenn ich eine ältere Schwester gehabt hätte, die für mich da gewesen wäre, mit mir gespielt hätte…Vielleicht hätte sie nicht zugelassen, dass mich Tante Judith so schlecht behandelte, hätte mich getröstet, wenn ich in der Schule geärgert wurde oder keine Freunde fand. Die Vorstellung erfüllte mich mit einer seltsamen Melancholie, einer Sehnsucht nach etwas, das nie geschehen war. Delias Antwort riss mich aus meinen traurigen Gedanken.

„Bella, ich habe ihren Tod mitangesehen“, antwortete sie ernst. „Ich war gerade einmal sechs als die Handlanger der Wächter gekommen sind, um sie zu töten, und ich hatte solche Angst. Ich bin geflüchtet, weil ich gedacht habe, dass sie mich als nächstes töten würden. Dass die Wächter Kinder verschonen, war mir zu diesem Zeitpunkt nicht klar. Als ich wiederkam waren sie weg und du ebenfalls…Ich wusste nicht, dass sie dich zu den Menschen gebracht haben, und dachte, ich würde dich nie wiedersehen…“  

Ich schluckte schwer und sah sogleich, dass sich Tränen in Delias Augen gebildet hatten. „Das muss schwer für dich gewesen sein“, antwortete ich mitfühlend. „Was hast du danach gemacht?“ Delia seufzte tief. „Eine Weile bin ich im Haus meiner Kindheit geblieben, aber das konnte ich nicht lange. Der Sammler, das Arschloch, das du heute kennengelernt hast, hat Wind von alledem bekommen und wollte meine Kräfte für seine Sammlung haben. Ich musste flüchten, um nicht von seinen Handlangern erwischt zu werden.

Von da an…war ich immer unterwegs. Immer auf der Flucht… Ich habe mehrere meiner Verfolger getötet, ob die nun vom Sammler oder den Wächtern stammten, kann ich nicht sagen. Ich wollte nicht zur Mörderin werden, aber sie alle, der Sammler und die Wächter, haben mich dazu gemacht…“ Delias Stimme brach am Ende ihrer Erläuterungen und sie konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Mir erging es ähnlich. All das zu hören, wie Delia gelitten hatte, während ich mich nur mit Tante Judith herumschlagen musste, nahm mich ganz schön mit.

Tränen stiegen in meine Augen und für einen Moment fragte ich mich, was Cassie in solch einer Situation tun würde. Dann trat ich mit ausgebreiteten Armen auf Delia zu, die meine Absicht verstand und die Umarmung akzeptierte. Die Zeit schien still zu stehen, während wir uns in den Armen lagen. Trotz all des Schreckens der letzten Stunden erfüllte mich plötzlich eine eigentümliche Wärme. Ich hatte eine Schwester! Ich konnte es immer noch nicht fassen!

Als wir uns schließlich voneinander lösten, musterte Delia mich ernst. „Verstehst du jetzt, warum ich nicht will, dass du zu den Wächtern gehst? Ich habe dich gerade erst wiedergefunden, Bella, und will dich nicht gleich wieder verlieren!“, erklärte Delia und wirkte dabei ernsthaft besorgt. Ich konnte ihren Gedankengang nachvollziehen, aber mein Entschluss war längst gefällt.

„Das verstehe ich ja, aber ich muss dorthin, Delia! Es tut mir leid. Ich möchte Cassie unbedingt helfen und wir haben beide schon unser Leben riskiert, um an diese Informationen zu kommen. Wenn wir jetzt einen Rückzieher machen, war alles umsonst. Bitte versteh das. Sobald wir zurückkommen, haben wir jede Menge Zeit, uns kennenzulernen, und dann kannst du mir auch zeigen, wie ich meine Kräfte richtig benutze. Das wird toll und wir werden zurückkommen! Versprochen!“, plapperte ich einfach darauf los, wobei mich allein der Gedanke, Zeit mit Delia zu verbringen, in helle Aufregung versetzte.

Ich konnte es kaum erwarten, aber erst galt es, Cassie zu helfen und die Wächter aufzusuchen. Delia wirkte noch immer unglücklich, aber bei Cassies Erwähnung musterte sie mich interessiert. „Dieser Mensch, Cassie…Du magst sie sehr, oder?“, fragte Delia mit einem verschmitzten Grinsen. Ich spürte, wie mir augenblicklich die Röte ins Gesicht stieg. „Kann man wohl so sagen“, antwortete ich verlegen, was Delia ein Auflachen entlockte.

„So sah das vorhin zumindest aus mit dem Kuss! Ist es etwas Ernstes?“, hakte sie nach, was mich noch mehr in Verlegenheit brachte. „Also…Ich…Ich hatte bisher noch nie…Keine Ahnung, das kann ich jetzt noch nicht sagen, aber ich mag Cassie wirklich sehr“, stammelte ich eine Antwort zusammen. Delia seufzte tief und schenkte mir ein aufrichtiges Lächeln. „Wenn das so ist, kann ich wohl nichts gegen deine Entscheidung ausrichten. Es gefällt mir zwar nicht, aber du wirst deine Freundin nicht im Stich lassen“, gab sich Delia schließlich geschlagen.

Es fühlte sich noch komisch an, wenn sie Cassie als meine Freundin bezeichnete, doch eigentlich stimmte es. Cassie und ich waren mindestens Freunde, vielleicht sogar mehr…Delia schlug vor, zurück in den Hauptraum zu gehen und ich stimmte zu. Sobald ich den großen Keller betrat, fiel mein Blick unwillkürlich auf Ryans Leiche und Traurigkeit überkam mich. „Wir können ihn doch nicht einfach hier liegen lassen!“, sprach ich das aus, was mir sogleich in den Kopf kam.

„Können wir nicht?“, fragte Cassie irritiert. „Er hat uns verraten und in eine Situation gebracht, die beinahe tödlich für uns ausgegangen wäre!“ Damit hatte Cassie nicht Unrecht, aber es fühlte sich trotzdem falsch an, Ryan so zurückzulassen. „Das stimmt zwar, aber er hat im letzten Moment die Seiten gewechselt und damit vermutlich mein Leben gerettet. Ryan hat Fehler gemacht, aber er verdient trotzdem eine anständige Beerdigung“, betonte ich und Cassie seufzte erschöpft.

„Vielleicht. Wir haben aber nicht unbedingt die Zeit dazu. Ich würde gerne sobald wie möglich zum Kamiyama aufbrechen. Das ist eine ganz schön weite Strecke, wie du weißt“, entgegnete Cassie und ich musste ihr recht geben. „Ich könnte mich um Ryans Leiche kümmern. Eine große Beerdigung mit vielen Gästen kann ich nicht versprechen, aber ich kann ihn zumindest begraben“, bot Delia überraschend an. Ich las zumindest eine Information aus ihren Worten.

„Also, hast du nicht vor, mit uns zu kommen? Wir könnten Zeit zusammen verbringen und vielleicht könntest du schon einmal anfangen, mir mit meinen Kräften zu helfen…“, fragte ich kleinlaut, wobei mir Cassie einen verwirrten Blick zuwarf. Kein Wunder, sie hatte die große Enthüllung nicht mitbekommen und wusste demnach nicht, dass Delia meine große Schwester war. Ich würde es ihr später erklären.

„Tut mir leid, aber nichts kann mich dazu bewegen, freiwillig die Wächter aufzusuchen! Das müsst ihr allein machen und alles andere kann warten“, erklärte Delia entschieden und irgendwie konnte ich sie verstehen. Nachdem sie den Tod unserer Eltern hatte mitansehen müssen, schloss sie einen Besuch bei den Wächtern kategorisch aus. Doch Cassie und mir blieb in dieser Hinsicht keine Wahl.

„Okay, damit ist es beschlossen! Delia kümmert sich um Ryans Leiche und wir brechen sobald wie möglich zum Kamiyama auf! Was meinst du, Bella? Es ist Zeit, auf unsere Seite der Mauer zurückzukehren!“, verkündete Cassie zuversichtlich. Noch teilte ich ihre Zuversicht nicht. Unser Vorhaben machte mich nervös. Wenn alles funktionierte, würde ich bald den Wächtern, den Mördern meiner Eltern, gegenüberstehen.

Allein das war eine furchtbare Vorstellung, doch es gab noch ein anderes Problem. Nach allem, was im Dämonenreich geschehen war, was dort mit mir geschehen war, wusste ich nicht mehr, ob das Reich der Menschen wirklich meine Seite der Mauer war.

Verflucht - Der TodespaktWo Geschichten leben. Entdecke jetzt