„Es tut mir leid…“, hauchte Delia beinahe, als sie die Tür öffnete und den schrecklichen Anblick dahinter enthüllte. Mir stockte augenblicklich der Atem. Wenn ich schon gedacht hatte, die anderen Räume seien verwüstet, war das kein Vergleich zu diesem hier. Die Möbel waren im ganzen Raum verteilt, teilweise zerstört, vollkommen zertrümmert. Die Tapete hing in Fetzen von den Wänden. In diesem Zustand war es nicht einmal mehr möglich zu sagen, für was der Raum ursprünglich verwendet wurde. Doch am schlimmsten war der Boden. Der einst helle Teppichboden, der nun über und über bedeckt war mit…Blut?
In der Mitte des Zimmers war der Teppich völlig verklebt und von einem kräftigen Rotbraun, das ich instinktiv mit getrocknetem Blut in Verbindung brachte. Offenbar war meine erste Intuition vollkommen richtig. „Furchtbar, ich weiß…“, kommentierte Delia, der mein schockierter Gesichtsausdruck nicht entgangen war. „Ist das…Sind sie…“, stammelte ich unzusammenhängende Satzfragmente, aber Delia verstand mich trotzdem.
„Ja, sie wurden ermordet“, bestätigte sie meine Vermutung. „Ermordet?!“, rief ich schockiert, obwohl mir klar sein müsste, dass diese Menge an Blut nicht von einem natürlichen Tod stammte. „Von wem?“ Delias zutiefst betroffener Blick wurde hart, als sie mir in die Augen sah. „Von den Wächtern, diesen regelbesessenen Pedanten!“, stieß sie verächtlich hervor und ich konnte kaum glauben, was sie da sagte.
Natürlich hatten wir schon davon gehört, dass die Wächter Gesetzesverstöße bestraften und ein Mensch im Dämonenreich zählte offenbar dazu, aber ich konnte kaum glauben, dass sie die Betroffenen tatsächlich töteten! Cassie befand sich schließlich seit Tagen im Dämonenreich und wir hatten noch rein gar nichts von den Wächtern gehört! Allerdings hatte Cassie auch nicht vor zu bleiben und würde voraussichtlich bald wieder zu den Menschen zurückkehren…
„Die Wächter? Sie haben meine Eltern tatsächlich getötet? Nur weil Menschen im Dämonenreich nicht geduldet werden?“, hakte ich ungläubig nach. Ich konnte immer noch nicht fassen, dass das wahr sein sollte. Allerdings wirkte Delia nicht so, als würde sie Scherze machen. Ihre Miene verfinsterte sich, als sie fortfuhr.
„Nicht nur das! Sie haben es nicht geduldet, dass sie zusammen sind! Dass sie Kinder in die Welt setzen, die im Grunde zur Hälfte menschlich sind! All das war den Wächtern Grund genug, um sie für ihr Vergehen zu bestrafen. Um sie zu töten!“, erklärte Delia und ich konnte förmlich den Hass in ihrer Stimme hören. „Aber ich bin doch kein halber Mensch! Was ist da das Problem?“, fragte ich nahezu verzweifelt. Mir war klar, dass keine Argumentation meine Eltern zurückbringen konnte, doch die Gründe der Wächter schienen mir einfach nicht überzeugend.
„Sie haben befürchtet, dass die menschliche Seite die Kontrolle der Mischlinge schwächt. Dämonische Kräfte, die sich nicht kontrollieren lassen…Das wäre fatal, besonders wenn die restlichen Dämonen denken, es wäre in Ordnung, sich menschliche Partner zu suchen. Sie wollen konsequent sein, was ihre Regeln angeht. Keine Ausnahmen, keine Präzedenzfälle. Außerdem solltest du wissen, dass deine Kräfte mächtig, ja, geradezu gefährlich aus der Sicht der Wächter, sind. Wenn du sie nicht kontrollieren könntest, kann das üble Konsequenzen haben.“
Irritiert runzelte ich die Stirn. Das war das erste Mal, dass jemand über meine Kräfte sprach. „Haben sie meine Kräfte deswegen versiegelt und mich ins Menschenreich geschickt? Aber warum wird das Siegel dann am achtzehnten Geburtstag sichtbar? Erst dadurch wusste ich davon und kann es jetzt lösen lassen“, fragte ich etwas verwirrt nach. Unschlüssig zuckte Delia mit den Schultern.
„Ich schätze, sie wollten dir die Chance geben, selbst zu entscheiden, ob du die Kräfte willst. Die Wächter sind sehr rechtschaffen. Sie bestrafen Kinder nicht für die Verbrechen ihrer Eltern. Du bist jetzt erwachsen und wenn du deine Kräfte nicht kontrollieren kannst und das Gesetz brichst, werden sie dich dafür richten“, erklärte Delia, wobei sich mir inzwischen eine Frage aufdrängte. „Woher weißt du all das? Wenn kaum einer die Wahrheit über meine Eltern kennt, warum dann du?“, verlangte ich von Delia zu wissen. Sie wirkte so emotional involviert, so mitgenommen von der Geschichte. Auch jetzt glänzten ihre Augen feucht, als sei sie den Tränen nahe.
„Ich bin hier in der Nachbarschaft aufgewachsen. Ich habe die beiden gekannt, gut gekannt. Ein tolles Paar, so glücklich und…liebenswert. Für mich ist eine Welt zusammengebrochen, als die Wächter sie getötet haben. Ich war noch ein Kind, aber als ich älter wurde und verstanden habe, wie ungerecht das alles war…Es ist furchtbar und ich habe es gehasst, als die Schaulustigen diesen Ort verwüstet haben und sich diese blöden Gerüchte verbreitet haben!“, erklärte Delia mit Nachdruck.
„Und dann bist du zur Verbrecherin geworden?“ Ich hatte nicht verhindern können, dass mir diese Frage entwich. Ein leichtes Lächeln erschien auf Delias Mundwinkeln. „Das würde dich auch interessieren, oder? Aber das ist eine Geschichte für ein andermal. Fürchtest du dich denn vor mir?“, stellte sie eine Gegenfrage. Ich dachte einen Moment darüber nach. Fürchtete ich mich vor Delia? Nach allem, was Ryan erzählt hatte, hätte ich Grund dazu, doch ich tat es nicht.
„Nein, irgendwie nicht. Du hast mich erkannt und bewusst angesprochen, oder? Im Gasthaus gestern?“, antwortete ich seltsam gefasst. Delia zuckte erneut mit den Schultern. „Zuerst war es nur ein Verdacht. Ich meine, das Siegel und deine ungewöhnliche Begleitung. Irgendwann war ich mir sicher und wollte dich kennenlernen. Du bist immerhin ihre Tochter.“ Mit dieser Antwort gab ich mich dann zufrieden. Delia hatte mich insgesamt geradezu überhäuft mit Informationen, die ich jetzt verarbeiten musste.
Sie bot an, mich erst einmal allein zu lassen, was ich dankend annahm. Ich brauchte wirklich Zeit zum Nachdenken, aber nicht hier, nicht in jenem Raum, in dem meine Eltern grausam ermordet worden waren. Ich wollte den getrockneten Blutfleck keine Sekunde länger sehen. Stattdessen verschlug es mich ins Schlafzimmer, wo – Delias Aussage bestätigend – tatsächlich ein Kinderbettchen stand. Der Anblick stimmte mich traurig, wenngleich er besser war als der vorherige Tatort.
Dort ließ ich das vergangene Gespräch erst einmal Revue passieren. Meine Eltern hatten sich geliebt, keine Entführung, keine Vergewaltigung, nur ein Paar, das im Dämonenreich glücklich werden wollte. Allerdings hatte den Wächtern das nicht gepasst, die offensichtlich ohne zu zögern töteten, wenn ihre Gesetze zu sehr missachtet wurden. Ich wusste noch nicht, was das für Cassie und mich bedeutete, wollte gerade aber nicht darüber nachdenken.
Ich war noch immer in meine Gedanken vertieft, als plötzlich Cassie und Ryan zu mir traten. „Delia sagte, dass du gerade viel zu verarbeiten hast. Ist es schlimm? Willst du darüber reden?“, fragte mich Cassie mit sanfter Stimme und nahm mich ohne zu fragen in den Arm. Überrascht schreckte ich aus der Umarmung zurück, obwohl ich Cassie grundsätzlich dankbar für ihre Anteilnahme war. „Ja…also ich schätze schon, dass Reden hilft, aber lass uns das draußen machen, auf dem Weg zu Ryans Meister. Ich will mich nur noch kurz ein letztes Mal umschauen…“, erklärte ich etwas abwesend.
Cassie schien aufzufallen, wie zerstreut ich gerade war, und ging schon einmal vor. Jedoch erst, nachdem sie mir noch einmal über den Oberarm streichelte und mich besorgt musterte. Ich wusste nicht, ob ich diesen Ort jemals wiedersehen würde, weshalb ich mir alles genau einprägen wollte. Ich wollte die einzelnen Räume ansehen und mir vorstellen, wie sie wohl im unberührten, nicht verwüsteten Zustand ausgesehen hatten.
Dann erst bemerkte ich, dass Ryan immer noch im Türrahmen stand. Er war nicht mit Cassie nach draußen gegangen. „Was gibt es, Ryan? Wir können draußen planen, wie wir am schnellsten zu deinem Meister kommen“, erklärte ich beschwichtigend. Erst brauchte ich etwas Zeit für mich. Allerdings dachte Ryan nicht einmal daran zu gehen. Mit zerknirschter, fast schuldbewusster Miene kam er auf mich zu. „Es tut mir leid, Bella. Das ist vielleicht nicht der beste Zeitpunkt für dich, aber der Meister hat lange genug gewartet“, verkündete Ryan mit seltsam tonloser Stimme.
„Wir gehen doch bald zu ihm…“, setzte ich an, hielt jedoch inne, als ich Ryans harten, beinahe beängstigenden Blick sah. Unwillkürlich wollte ich zurückweichen, doch meine Beine trafen auf ein Hindernis. Hinter mir befand sich das Kinderbett, während Ryan mit zwei weiteren Schritten bei mir war. „Du hast da etwas falsch verstanden. Die anderen werden uns nicht begleiten. Nur du gehst zum Meister. Es tut mir leid, aber Auftrag ist Auftrag…“
Die Bedeutung seiner Worte war noch nicht in meinem Gehirn angekommen, als Ryan mich plötzlich packte und sogleich mehrere tausend Volt durch meinen Körper strömten.
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Verflucht - Der Todespakt
FantasíaIn einer Welt, in der Menschen und Monster gleichermaßen leben, scheint es keinen Zweifel an der Zuordnung von "gut" und "böse" zu geben. Durch eine feste Grenze getrennt, führen Menschen und Dämonen eine weitestgehend friedliche Koexistenz, doch de...