Die Stunden zogen sich, bis endlich die rettende Uhrzeit gekommen war. Mit dem Rucksack auf dem Rücken, in dem sich die spärlichen Reste meines bisherigen Lebens befanden, wartete ich hinter der Turnhalle und dachte fast, Cassie hätte mich vergessen. Dann aber kam sie, gefolgt von ihrem Vater. Ich warf Henry Rose, Abgeordneten der Partei für Sicherheit, einen ehrfürchtigen Blick zu, doch er schien mich kaum wahrzunehmen.
„Es ist doch okay, wenn eine Freundin heute bei mir übernachtet, oder?“, fragte Cassie noch einmal nach, aber ihr Vater zuckte nur mit den Schultern und murmelte beinahe gelangweilt seine Zustimmung. „Seid aber nicht so laut, Schatz. Du weißt, dass ich morgen einen wichtigen Termin habe“, erinnerte Henry Rose dann seine Tochter, die brav versicherte, dass wir leise sein würden.
Alles an dieser Situation war mir suspekt. Zum einen fühlte es sich schon komisch an, von Cassie als Freundin bezeichnet zu werden, auch wenn es natürlich nur Täuschung war, aber dann auch noch die Vater-Tochter-Beziehung der beiden zu sehen, gab mir den Rest. Ich hatte nun einmal nie Eltern gehabt und Tante Judith war alles andere als eine liebende Verwandte gewesen. Solch banale Unterhaltungen, in denen trotz eines tadelnden Tonfalls dennoch jene bedingungslose Liebe mitschwang, die oft, aber nicht immer, zwischen Eltern und ihren Kindern bestand, hatte ich nie selbst erlebt.
Ich war noch immer ganz perplex, als ich meinen Rucksack im Kofferraum des Autos verstaute und anschließend von Cassie durch eine Tür geschoben wurde. Sie nahm auf dem Beifahrersitz Platz, während ich steif auf der Rückbank saß. Es wunderte mich nicht, dass ein wohlhabender Politiker selbst in einer Großstadt noch darauf bestand, Auto zu fahren, statt die öffentlichen Verkehrsmittel zu benutzen. Vermutlich wohnten sie in einem großen Haus im Zentrum der Stadt, was mit einem normalen Gehalt eigentlich unmöglich war.
In dieser Hinsicht sollte ich nicht enttäuscht werden. Das Haus, in dem Cassie und ihr Vater lebten war wirklich groß, wenn auch etwas dezentraler als gedacht. Wenn ich es mir aber recht überlegte, wollten reiche Leute gar nicht im hektischen, schmutzigen Stadtzentrum leben, sondern in schönen, protzigen Wohngebieten, die sich vermutlich nur eine gewisse Gehaltsklasse leisten konnte. Ich folgte den beiden ins Haus, wobei mich Cassie im Inneren direkt zu einer Treppe navigierte.
Ich ließ mich von ihr zu ihrem Zimmer führen und kaum hatte Cassie die Tür geschlossen, konnten wir endlich aufatmen. Nun brauchte es keine Scharade mehr und wir mussten nicht länger vorgetäuschte Freundinnen sein. „Zimmer“ war hierbei eine gewaltige Untertreibung. Cassies Räumlichkeiten umfassten zwei große Zimmer, die durch einen Vorhang getrennt wurden. Im einen befand sich ein großes Doppelbett und der vermutlich randvolle Kleiderschrank, während sich im zweiten Schreibtisch, Regale und ein großes Sofas fanden, das sich nach Cassie zu einem Schlafsofa umfunktionieren ließ.
Demnach war auch schon geklärt, wo ich heute schlafen würde. Cassie ließ keine Zeit verstreichen und begann direkt, das Schlafsofa vorzubereiten. Unsicher und eindeutig fehl am Platz stand ich im Raum und beobachtete, wie sich Cassie mit dem Spannbetttuch abmühte. „Und…übernachten häufiger Freundinnen bei dir?“, fragte ich schließlich gezwungen, um die unangenehme Stille zu durchbrechen.
Cassie erübrigte nicht einmal einen Blick für mich, als sie beinahe gelangweilt antwortete: „Na ja, hin und wieder. Das ist zumindest nichts Ungewöhnliches und auch wenn er dich hier noch nie gesehen hat, wird mein Vater keine Fragen stellen. Er merkt sich häufig nicht einmal die Namen meiner Freundinnen.“ Ich murmelte einige Worte der Zustimmung, bevor wir wieder in das unbehagliche Schweigen verfielen.
Die Situation war vollkommen absurd! Ich hatte in meinem Leben kaum ein Wort mit Cassie gewechselt und nun sollte ich bei ihr übernachten! Wenn wir jetzt kaum eine entspannte Unterhaltung führen konnten, wie sollte unsere Reise in ein fremdes Land dann verlaufen? Cassie bestand darauf, dass wir direkt schlafen gingen, um morgen möglichst ausgeruht zu sein. Ich sah keinen Grund, ihr zu widersprechen, wenngleich ich insgeheim befürchtete, kein Auge in der fremden Umgebung zuzubekommen.
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Verflucht - Der Todespakt
FantasiIn einer Welt, in der Menschen und Monster gleichermaßen leben, scheint es keinen Zweifel an der Zuordnung von "gut" und "böse" zu geben. Durch eine feste Grenze getrennt, führen Menschen und Dämonen eine weitestgehend friedliche Koexistenz, doch de...