-Bella-
Unruhig zupfte ich am Träger meines Kleides. Selten hatte ich mich so unbehaglich, so fehl am Platz gefühlt. Nach allem, was sich am gestrigen Tag ereignet hatte, konnte ich mir kaum etwas Unpassenderes vorstellen, als zu meiner eigenen Abschlussfeier zu gehen. Ich spielte die gewöhnliche Absolventin, bewegte mich wie selbstverständlich unter meinen ehemaligen Klassenkameraden, dabei war ich eine Dämonin, ein Fremdkörper inmitten der schulischen Normalität. Noch gestern war ich fest entschlossen gewesen, dieses leidige Leben zu beenden, und nun stand ich inmitten feiernder Jugendlichen. Wie hatte das nur passieren können?
Plötzlich erhaschte ich einen hellblonden Haarschopf in der Menge und für einen flüchtigen Moment traf Cassies Blick den meinen. Nur Sekundenbruchteile später wandte sie sich in gespieltem Desinteresse ab, doch die Botschaft, die ihre hellblauen Augen vermittelt hatten, war eindeutig gewesen. Spiel mit! Verhalte dich, als sei alles wie immer!, schienen mir ihre Augen sagen zu wollen. Ich unterdrückte ein Seufzen.
Das war passiert! Sie war passiert! Ich war aus meiner Verblüffung kaum herausgekommen, als ausgerechnet Cassie, Cassie Rose, Stufenbeste und zugleich eines der beliebtesten Mädchen des Jahrgangs, meinen Selbstmordversuch verhindert hatte. Sie hatte mich in den vergangenen Jahren, die wir schon in derselben Klasse waren, kaum eines Blickes gewürdigt, geschweige denn jemals mit mir gesprochen. Das hatte sich gestern drastisch geändert!
Nicht nur hatte sie mich davon abgehalten, mir das Leben zu nehmen, sie hatte mir sogar das offenbart, was sie noch nie jemandem anvertraut hatte. Es hatte mich überrascht zu hören, dass hinter der Fassade des perfekten Mädchens solch ein düsteres Geheimnis lauerte. Cassie konnte den Tod sehen. Sie traf die Geister kürzlich Verstorbener und sah außerdem den Tod von Personen voraus. Das hatte sie schließlich auch zu mir geführt…Durch meinen Plan, mir das Leben zu nehmen, hatte mich jene dunkle, unheilvolle Aura umgeben, die nur Cassie sehen konnte.
Deshalb hatte sie versucht, mich davon abzubringen, denn jeder Tod, den Cassie miterleben musste, war dank ihrer Fähigkeit unfassbar schmerzhaft. Sie selbst ging davon aus, dass es sich bei ihrer Fähigkeit um einen Fluch handele, den sie politischen Feinden ihres Vaters zu verdanken hatte. Ich konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob Cassie wirklich verflucht war, aber es gab nur einen Weg, das herauszufinden…
Nicht nur Cassie hatte gestern ihr größtes Geheimnis offengelegt. In der Verzweiflung des Sterbenwollens hatte ich ihr all das gebeichtet, was mir Tante Judith zuvor eröffnet hatte. Cassie wusste, was ich war, und welches widerliche Verbrechen meiner Geburt zu Grunde lag. Dennoch hatte sie eingewilligt, gemeinsame Sache mit mir zu machen. Wir beide wollten ins Reich der Dämonen, Cassie, um ihren Fluch aufheben zu lassen, und ich, um mehr über meinen Vater und das mysteriöse Siegel, das meine Dämonenkräfte unterdrückte, zu erfahren.
Wir hatten einen vielleicht etwas zweifelhaften Pakt geschlossen, um diese Ziele zu erreichen. Wenn ich Cassie half, ihren Fluch loszuwerden, würde sie mich töten. Was womöglich makaber klang, war momentan wohl die beste Chance, mein letztes großes Ziel, das Sterben, zu erreichen. Natürlich könnte ich mich auch direkt den Menschen ausliefern und auf eine schnelle Hinrichtung hoffen, aber diese Methode wäre demütigend und ich würde vor meinem Tod noch gerne all die offenen Fragen beantworten. Also setzte ich meine Hoffnungen auf den Pakt, den Cassie und ich geschlossen hatten.
Bevor Cassie wieder in der Menge verschwinden konnte, nahm ich die Verfolgung auf. Ich drängte mich möglichst vorsichtig und bei jeder unabsichtlichen Berührung peinlich berührt durch das Meer der Leiber, bis ich schließlich die Frauentoilette erreichte. Mit einem erleichterten Seufzen, weil ich endlich dem Gedränge entkommen war, öffnete ich die Tür. Cassie stand soeben vor dem großen Spiegel und kontrollierte ihr Make-up.
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Verflucht - Der Todespakt
FantasíaIn einer Welt, in der Menschen und Monster gleichermaßen leben, scheint es keinen Zweifel an der Zuordnung von "gut" und "böse" zu geben. Durch eine feste Grenze getrennt, führen Menschen und Dämonen eine weitestgehend friedliche Koexistenz, doch de...