Kapitel 6 - Teil 2

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Obwohl wir nur wenige Schritte getan hatten, fühlte sich die Umgebung direkt anders an, gefährlicher. Mir war bewusst, dass dieses Gefühl rein psychisch begründet war, aber dadurch ließ sich die schleichende Angst, die Furcht vor dem Unbekannten, nicht vertreiben. Ich war mir sicher, keiner von uns beiden war die wahren Ausmaßes dieses „Ausflugs“ bewusst gewesen. Natürlich hatten wir immer wieder gehört, wie blutrünstig und grausam Dämonen waren, wie lebensmüde und gefährlich es war, das Dämonenreich auch nur zu betreten, aber das war alles nur Theorie gewesen.

Ausgesprochen hatte sich unser Plan eigentlich ganz machbar angehört, aber die Wahrheit war doch, dass keine von uns auch nur erahnen konnte, was im fremden Land auf uns zukommen würde. Eigentlich hätte mich diese beunruhigende Erkenntnis, diese plötzlich aufkommende Angst, augenblicklich lähmen müssen, aber wir konnten es uns gerade nicht leisten, Zeit zu verschwenden. Die Soldaten würden nicht ewig weg sein und wenn sie zurückkehrten und wir immer noch unschlüssig vor dem Tor standen, wäre diese ganze Mission gescheitert, bevor sie auch nur richtig begann.

Darum nahm ich all meine Entschlossenheit zusammen und wandte mich an Bella. „Jetzt schnell! Wir müssen so viel Abstand wie möglich zwischen uns und diese Mauer bringen!“, wies ich Bella an und begann zu rennen. Sie folgte mir etwas unschlüssig und ich durfte auch nicht vergessen, dass Bella kleiner und unsportlicher als ich war. Im schulischen Sportunterricht war sie immer eine der Schlechtesten gewesen, was unter anderen auch daran lag, dass sie sich genierte, vor den Augen der anderen Übungen zu machen oder Leistungen jeglicher Art zu verrichten.

Eigentlich war Bella schlank, geradezu mager, aber es mangelte ihr an Körpergefühl und, wie ich persönlich fand, auch an Motivation. Das sollte aber gerade jetzt anders sein! Noch nie hatten wir so einen guten Anlass zum Rennen gehabt! Wenn wir erwischt wurden, war schließlich alles vorbei! Mein Vater würde mich unter strenge Bewachung stellen und dann müsste ich den Rest meines Lebens unter diesem Fluch leiden!

Ich warf einen Blick über die Schulter und stellte zufrieden fest, dass Bella nun zu mir aufholte. Allerdings mühte sie sich nur ab, mit mir mitzuhalten, um mir völlig außer Atem etwas zuzurufen. „Was ist mit Scharfschützen? Gibt es keine Scharfschützen?“, gab Bella keuchend zu bedenken, doch ich hatte keine Zeit für ihre Sorgen. „Wir sind Menschen oder sehen zumindest so aus! Sie werden nicht auf uns schießen! Wenn sie uns bemerken, rufen sie höchstens Verstärkung, aber wenn wir schnell genug rennen, werden sie hoffentlich nicht die Verfolgung aufnehmen. Schließlich werden sich auch die Soldaten nicht in Gefahr begeben, indem sie allzu weit ins Dämonenreich vordringen!“, rief ich Bella während dem Rennen zu und packte sie dann am Handgelenk, um sie mitzuziehen.

Bellas Protest ging in ihrem keuchenden Atem unter, als wir weiter rannten. Unmittelbar hinter der Mauer lag nur eine ebene Fläche, da man jegliche Vegetation, hinter der man sich verstecken und anschleichen könnte, abgeholzt hatte. So hatten wir keinerlei Deckung und wurden vermutlich längst von den Wachposten entdeckt, doch immerhin wurden wir nicht erschossen. Ich war froh, dass ich mit meiner Theorie recht gehabt hatte, wenngleich ich mir relativ sicher gewesen war.

Auch wenn das Betreten des Dämonenreichs für Menschen strengstens untersagt war, hatten die Soldaten längst nicht die Erlaubnis, auf fliehende Menschen zu schießen. Selbst ein Streifschuss konnte den Schießenden vors Militärgericht bringen. Welche rechtliche Grundlage hatte man schließlich auch, einen Wahnsinnigen, der freiwillig in sein Verderben rannte, mit Gewalt davon abhalten zu wollen?

Es fühlte sich so an, als seien wir eine Ewigkeit gerannt, und ich meinte schon, meine angestrengte Lunge würde bersten, als das erste Waldgebiet in Sicht kam. Ich kanalisierte meine letzten Kraftreserven und hoffte, dass Bella es mir gleich tat. Mit schmerzenden, verkrampften Beinen erreichten wir schließlich den Schutz der Bäume und hielten völlig außer Kräften an. Bella schien es dabei schlimmer getroffen zu haben als mich. Sie bekam kaum Luft und musste sich erst einmal setzen, aber das konnte sie von mir aus gerne. Dennoch konnte ich mir einen stichelnden Kommentar nicht verkneifen.

„Ich habe gedacht, ihr Dämonen sollt uns körperlich überlegen sein“, kommentierte ich spöttisch, worauf mir Bella einen bösen Blick zuwarf. „Falls du dich erinnerst, habe ich immer noch dieses dämliche Siegel hier, mit dem ich genauso menschlich bin wie du!“, entgegnete Bella immer noch außer Atem und präsentierte ihren Oberarm. „Wenn ich wirklich einen körperlichen Vorteil hätte, denkst du nicht, ich hätte das im Sportunterricht voll ausgenutzt?“

Es war fast schon amüsant, dass Bella selbst ihre katastrophalen Leistungen im Sportunterricht ansprach, doch das Lächeln verging mir augenblicklich. Nachdem sich mein Körper nun einigermaßen von der übermäßigen Anstrengung erholt hatte, warf ich einen vorsichtigen Blick in Richtung der Mauer.

Das hohe Gebilde sah von dieser Seite fast noch einschüchternder aus, doch mit leichter Überraschung stellte ich fest, dass wir mit unserem verzweifelten Sprint doch eine hübsche Strecke zwischen uns und das steinerne Ungetüm gebracht hatten. Verfolger schien es zumindest keine zu geben und vermutlich würde man das Risiko jetzt auch nicht mehr eingehen. Wir hatten die erste Deckung erreicht und waren damit zu tief ins fremde Territorium eingedrungen, um eine Rettung zu riskieren.

Ich hatte Bella schließlich ausführlich dargelegt, dass man es aus politischer Sicht nicht wagen durfte, einen Krieg mit den Dämonen zu provozieren. Unerlaubt mit einer größeren militärischen Macht in ihr Gebiet einzudringen, käme einer Kriegserklärung gleich. Also waren wir von nun an sicher.

„Lass uns noch ein bisschen tiefer in den Wald vordringen, damit sie uns nicht von der Mauer aus sehen“, schlug ich dennoch sicherheitshalber vor. Bella leistete widerwillig Folge, obwohl sie immer noch unter der Erschöpfung der sportlichen Aktivität litt. Im Stillen amüsierte ich mich über sie, aber sprach es nicht mehr an. Solche Sticheleien schienen Bella nur wütend zu machen und vielleicht würde ich ihre Unterstützung bald nötig haben.

Plötzlich erfasste mich wieder jene ängstliche Anspannung, die mich hinter dem Tor ereilt hatte. Jetzt wurde es ernst! Wir hatten die Grenze überwunden und uns tatsächlich ins Reich der Dämonen gewagt! Nun wandten wir der Mauer und der bekannten menschlichen Zivilisation dahinter den Rücken zu, zumindest für eine Weile…Man könnte fast meinen, mein großes Ziel, das Loswerden meines Fluches, wäre nun zum Greifen nah, aber das wäre ein Trugschlug.

Der harten Wahrheit, so grausam sie auch war, konnten wir nicht länger entkommen. Sie erreichte uns in diesem Augenblick und vergiftete den vorherigen Triumph. Denn so stolz wir auch darauf waren, die Wachen ausgetrickst und die Mauer überwunden zu haben, das bedeutete gar nichts. Diese durchaus beeindruckende Leistung, die bereits einen unbekannten Nervenkitzel und einen nicht gerade kleinen Kraftakt für uns dargestellt hatte, war erst der Anfang gewesen. Die wahre Herausforderung begann jetzt…

Verflucht - Der TodespaktWo Geschichten leben. Entdecke jetzt