Delia sah mich einen Moment an und zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, Anerkennung in ihrem Blick zu sehen. „Ja, ich weiß, wo wir hinmüssen! Komm mit!“, verkündete sie und lief zielstrebig durch das verlassene Haus. Nun sah ich auch, wie sich Ryan mit Bella an uns vorbeischleichen konnte. Das Haus hatte einen zweiten Ausgang, nämlich den über die Terrasse. Dort musste er Bella unbemerkt herausgeschafft haben, während ich an der Vorderseite des Hauses auf sie gewartet hatte.
So ein Mistkerl! Ryan hatte uns von Anfang an angelogen und auf diesen Verrat hingearbeitet! Ich konnte meine Wut kaum in Zaum halten, während ich Delia über die Terrasse folgte. Wie hatte ich ihm nur jemals trauen können? Na ja, streng genommen hatte ich das am Anfang auch nicht, nur gegen Ende war ich deutlich nachlässiger geworden…Ryan hatte einigermaßen sympathisch gewirkt, nachdem mit Delia eine echte Bedrohung auf den Plan getreten war.
Delia…Stimmte das, was Ryan uns über sie erzählt hatte, überhaupt oder hatte er uns bewusst angelogen, damit wir ihr misstrauten? Vielleicht war sie gar keine Mörderin, sondern vollkommen harmlos. Nun ja…Nach längerer Überlegung verwarf ich diesen Gedanken wieder. Ich hatte vom ersten Augenblick an ein seltsames Gefühl bei Delia. Sie wirkte irgendwie bedrohlich und eigentlich überhaupt nicht vertrauenswürdig. Ich vertraute auf meine Intuition, gerade nachdem ich bei Ryan richtig gelegen hatte. Das brachte jedoch eine weitere, geradezu drängende Frage mit sich.
„Aber…Warum sollte ich dann ausgerechnet dir vertrauen? Du bist doch weitaus ominöser und undurchschaubarer als Ryan und ich soll darauf vertrauen, dass du mich zum richtigen Ort führst? Vielleicht steckt ihr ja unter einer Decke oder du bist in Wahrheit die eigentliche Gefahr“, formulierte ich meine Zweifel und blieb unwillkürlich stehen. Sofort drehte sich Delia zu mir um und musterte mich mit einer Mischung aus Belustigung und Ungeduld.
„Das fällt dir aber früh ein! Im Grunde hast du keine Wahl! Ich habe weder die Zeit noch die Lust, dir meine gesamte Lebensgeschichte zu erzählen, aber ich versichere dir, dass ich Bella unbedingt retten will. Glaub mir und komm mit oder bleib eben hier. Ich weiß, wo ich dringend hinmuss!“, erwiderte Delia pragmatisch. Der Blick ihrer undurchdringlichen, schwarzen Augen war hart, aber ich konnte auch deutlich die Sorge darin erkennen. Allein das reichte mir, um ihr zu glauben. Zumindest vorerst.
Sie war ernsthaft besorgt um Bella und wollte ihr zu Hilfe eilen. Dann sollte ich sie nicht länger aufhalten. „Okay, gehen wir!“, antwortete ich knapp angebunden und wir setzten unseren eiligen Weg fort. Im Grunde hatte Delia recht. Wenn sie den Weg kannte, musste ich ihr vertrauen, und falls sie mich in eine Falle lockte, war es eben so! Bellas Leben hatte gerade oberste Priorität!
Wie seltsam dieser Satz klang, wenn man bedachte, wie unsere Reise vor ein paar Tagen begonnen hatte. Ich hatte mich bereiterklärt, Bella zu töten, wenn sie mir half, meinen Fluch loszuwerden. Wie viel konnte sich innerhalb weniger Tage verändern? Zum einen war mein Fluch überhaupt keiner und vermutlich ließ er sich auch nicht loswerden, da Ryans Meister uns schließlich nicht helfen würde. Es überraschte mich, wie wenig mich diese Aussicht gerade störte.
Ich hatte mir nichts Schrecklicheres vorstellen können, als zeitlebens an diesem Fluch zu leiden, doch die Angst um Bella überschattete gerade alles andere. Außerdem gab es vielleicht einen anderen Weg. Wir könnten unsere Suche fortsetzen, sobald Bella gerettet wäre. Delia sprintete mir voran durch die Straßen und Gassen des Dorfes und mir fiel auf, dass sie nicht einmal darüber nachdachte, einen Bus zu nehmen.
„Warte!“, rief ich ihr beim Rennen zu. „Lebt dieser Kato hier? Im selben Dorf, wo auch Bellas Eltern gelebt haben?“ Konnte das sein? War das ein riesiger Zufall oder steckte mehr dahinter? Delia hielt nicht an, als sie sich im Rennen zu mir umdrehte und meine Fragen sogleich beantwortete: „Der Mistkerl hat sich bewusst hier angesiedelt! Der abgeschiedene, ländliche Raum ist generell gut geeignet für seine Machenschaften, aber natürlich hat er auch gehofft, dass sie früher oder später zurückkehren würde. Die verwaiste Tochter, die ihr Zuhause aufsucht…“
Inzwischen hatten wir die letzten Häuser hinter uns gelassen und rannten über schmale Feldwege. So sportlich ich auch war, allmählich holte mich die Erschöpfung ein und Delia schien es ähnlich zu gehen. Ihr verzweifelter Sprint wurde zu einem leichten Joggen. Schwer atmend holte ich zu ihr auf. Ich hatte noch immer so viele Frage. „Hast du Ryan von Anfang an erkannt? Hättest du uns nicht warnen können, wenn du von seinem Meister wusstest?“, wollte ich von ihr wissen.
„Ich war mir nicht sicher! Kato hat mehrere Lakaien, wenngleich ich Ryan auch schon begegnet bin. Aber erst musste ich herausfinden, ob Bella überhaupt die war, für die ich sie hielt. Und sei mal ehrlich: Wem hättet ihr eher geglaubt, wenn ich Ryan direkt als Schwindler beschuldigt hätte? Dem freundlichen Reiseführer, der euch schon seit zwei Tagen begleitet oder der unheimlichen Fremden, die angeblich sogar eine Mörderin ist?“, entgegnete Delia schnaubend.
„Angebliche Mörderin oder echte Mörderin?“, konnte ich mich nicht zurückhalten zu fragen. Wieder schnaubte Delia und sah mich wütend an. „Na gut, ich habe getötet! Bist du jetzt zufrieden? Ich musste mir die Massen an Verfolgern vom Hals schaffen, die Kato auf mich hetzt! Er will mich ebenfalls wegen meiner Kräfte, was es umso lebensmüder von mir macht, ihn direkt aufzusuchen. Trotzdem gehe ich dieses Risiko ein!“
Ich schwieg nach diesem Geständnis, was auch daran lag, dass Delia das Tempo wieder anzog und ich Schwierigkeiten hatte hinterherzukommen. Dieser Sammler hatte es also auch auf sie abgesehen. Ich zog vor allem eine Information aus ihren Worten. „Werden noch mehr Dämonen anwesend sein, wenn dieser Kato weitere Lakaien außer Ryan hat?“, hakte ich nach, obwohl mir schon unklar war, wie wir es mit Ryan und seinem offenbar wahnsinnig mächtigen Meister aufnehmen wollten.
„Vermutlich nicht. Ich habe erst vor kurzem meine letzten Verfolger getötet und außer Ryan dürfte er jetzt keine mehr haben. Es ist auch gar nicht so einfach, fähige Dämonen für illegale Aktionen anzuwerben. Schließlich fürchten sich viele zu sehr vor dem Zorn der Wächter“, antwortete Delia schulterzuckend. Die nächste Frage lag mir bereits auf der Zunge, doch ich hielt sie zurück.
Warum unternahmen die Wächter nichts gegen die Machenschaften des Sammlers? War das, was er tat, nicht eindeutig gegen ihre Regeln? Allerdings hatte ich es aufgegeben, mich über das Vorgehen der Wächter zu wundern. Nichts von dem, was sie taten oder eben nicht taten, ergab für mich Sinn. Vielleicht steckte dahinter der Plan einer höheren, weiseren Intelligenz, aber dann brachte es umso weniger, all das ergründen zu wollen. Außerdem blieb mir nicht mehr die Zeit, diese Frage zu stellen, denn wir waren da.
„Das ist es? Das soll das Versteck dieses Irrens sein?“, fragte ich ungläubig und deutete auf das große, rustikale Bauernhaus. Natürlich war die abgelegene Lage ein gutes Stück außerhalb des Dorfes seltsam, aber eigentlich gar nicht so sehr. Auf dem Land waren größere Abstände zwischen den Häusern Gang und Gäbe und von außen sah das Haus alles andere als verdächtig aus. Es handelte sich um ein etwas älteres, aber innen vermutlich gemütliches Haus, in dem eine Familie wohnen könnte. Es sah bestimmt nicht danach aus, als würde im Inneren Dämonen die Lebenskraft ausgesaugt.
„Das wahre Spektakel spielt sich im Keller ab“, erklärte Delia schulterzuckend, als hätte sie meine Gedanken gelesen. „Dann mal los!“ Wir näherten uns der hübsch verzierten Eingangstür und ein letztes Mal hielt mich Delia zurück. „Bist du dir wirklich sicher, dass du das tun willst? Ab hier gibt es kein Zurück mehr!“, wies sie mich noch einmal auf die drohende Gefahr hin, doch ich musste nicht lange darüber nachdenken. „Ich lasse Bella nicht sterben!“
DU LIEST GERADE
Verflucht - Der Todespakt
FantasyIn einer Welt, in der Menschen und Monster gleichermaßen leben, scheint es keinen Zweifel an der Zuordnung von "gut" und "böse" zu geben. Durch eine feste Grenze getrennt, führen Menschen und Dämonen eine weitestgehend friedliche Koexistenz, doch de...