Kapitel 17 - Teil 1

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-Bella-

Angespannt folgte ich Delia ins Innere des Hauses. Zeitweise erwischte ich mich sogar dabei, dass ich vor Aufregung glatt vergaß zu atmen. Das war ein großer Moment für mich. Wenn man Delias Aussagen glauben konnte, war das jenes Haus, in dem meine Eltern gelebt hatte. Na ja, gelebt war vielleicht das falsche Wort. Das war das Haus, in das mein Dämonenvater meine menschliche Mutter verschleppt hatte, nachdem er sie aus dem Menschenreich geraubt hatte.

Es war gewiss keine schöne Geschichte, aber ich hatte bisher so viele unterschiedliche Versionen davon gehört, dass ich endlich die Wahrheit kennen wollte. Was war mit meinem Vater nach dieser Straftat geschehen? Hatten die Wächter ihn getötet oder war er immer noch irgendwo dort draußen? Auf diese Fragen und viele weitere hoffte ich, Antwort zu erhalten. Aufmerksam versuchte ich, jedes Detail, das sich meinen Augen bot, genau zu erfassen.

Schon von außen hatte das zunächst unscheinbare Haus Anzeichen seiner dunklen Vergangenheit gezeigt. Auf den ersten Blick unterschied es sich kaum von den übrigen Reihenhäusern, doch wenn man genauer hinsah, offenbarten sich die Hinweise. Das Gras des Vorgartens wuchs zu lang und wild, um regelmäßig gestutzt zu werden. Die Farbe der Wände blätterte an einigen Stellen ab. Generell wirkte das Haus zu unbewohnt, zu leblos, was die These stützte, dass es wirklich seit fast zwei Jahrzehnten verlassen war.

Im Inneren sah es kaum besser aus. Spinnenweben, staubbedeckte Möbel, ja, hier lebte seit längerem keiner mehr. Irritiert bemerkte ich, dass einige Möbel seltsam verschoben aussahen. Delia bemerkte meinen Blick und erklärte: „Am Anfang hat es hier vor Schaulustigen nur so gewimmelt. Tatorte haben eine eigentümliche Anziehungskraft auf die Leute. Das ging so weit, dass die Wächter das Betreten des Hauses unter Strafe stellen mussten.“

Schockiert sah ich Delia an. „Das heißt, wir verstoßen gerade gegen das Gesetz?“, fragte ich überrascht und auch ein wenig beunruhigt. Ich hatte die Wächter noch nie getroffen, doch ich wollte ungern ihren Unmut auf mich ziehen. Delia stieß allerdings nur ein amüsiertes Schnauben aus. „Ihr verstoßt gegen das Gesetz, seit ihr hier seid!“, entgegnete sie lachend, bevor sie mich wieder ernst ansah. „Nein, ehrlich: Wenn jemand ein Recht hat, hier zu sein, dann doch wohl du!“

Augenblicklich versteifte ich mich. Bisher hatte ich meine wahre Identität vor Delia geheim gehalten, aber sie war wahrlich nicht dumm. In diesem Moment erkannte ich, dass sie wusste, wer ich war. Sie wusste, dass ich jenes Kind war, das aus dem damaligen Verbrechen hervorgegangen war. Warum sonst sollte ich mich dermaßen für dieses Haus und seine Geschichte interessieren? Außerdem hatte sie gesagt, dass Cassie und ich gegen das Gesetz verstießen, seit wir hier waren. Wusste sie auch, dass ich ebenfalls aus dem Menschenreich kam?

Ich war mir unsicher, ob es gut war, dass eine mutmaßliche Verbrecherin die Wahrheit über mich wusste. Deshalb bemühte ich mich darum, meine Beunruhigung zu überspielen und spielte die Unwissende. „Was soll das heißen?“, wollte ich möglichst unschuldig wissen und sah mich weiter im verwüsteten Raum um, bei dem es sich wohl ums Wohnzimmer gehandelt hatte. „Ach, tu nicht so!“, entgegnete Delia amüsiert. „Nein, ich weiß wirklich nicht, was du…“, setzte ich an, als mein Blick plötzlich an einem kleinen, aber bedeutsamen Detail hängenblieb.

Auf einem verstaubten Regel stand neben den Scherben, die wohl einst zu kleinen Keramikfigürchen gehört hatten, ein einzelner Bilderrahmen. Wie in Trance streckte ich meine Hand danach aus, um das Foto darin näher zu betrachten. Das…das konnte doch nicht sein…

Ich vergaß völlig, was ich hatte sagen wollen, und starrte weiterhin auf das Foto der kleinen, glücklichen Familie. Ein großer, schwarzhaariger Mann stand neben einer kleineren brünetten Frau, die ich schon durch andere Fotos und Familienalben kannte. Er hatte einen Arm um sie gelegt, während sie ein kleines Bündel, ein winziges, schwarzhaariges Baby auf dem Arm hielt. Beide lächelten überglücklich und völlig unbeschwert in die Kamera. Sie strahlten geradezu.

„Bin…bin das ich? Das Baby auf dem Foto?“, fragte ich Delia, wobei es auf einmal nebensächlich erschien, wenn sie von meiner wahren Identität erfuhr. „Was denkst du denn?“, antwortete diese lediglich und schien nicht im Geringsten überrascht. Sie hatte es also schon gewusst. Ich war das Baby auf dem Foto, daran bestand kein Zweifel. Die Frau war auf jeden Fall meine Mutter und der Mann…demnach mein Vater. Akribisch musterte ich den schwarzhaarigen Mann, suchte sein freundliches Gesicht nach etwas Dämonischem, etwas Grausamen ab. Doch er wirkte lediglich wie ein freundlicher junger Mann und Vater.

Das brachte mich direkt zum nächsten Punkt, der mich mehr als alles andere verwirrte. „Sie sehen so glücklich aus…Wie eine richtige Familie…Ich habe gedacht…Na ja, dass er meine Mutter vergewaltigt hat. Dass er sie entführt und sie dann gegen ihren Willen…“, brachte ich meine grenzenlose Verwirrung zum Ausdruck. „Ich weiß, wie eine Vergewaltigung funktioniert“, unterbrach mich Delia mit einer energischen Handbewegung. „Das hat man dir also erzählt? Ich weiß, es gibt zahlreiche Versionen der Geschichte, aber ausgerechnet dieser hast du dich entschlossen zu glauben?“

Instinkt hob ich abwehrend die Hände. „Ich habe mich nicht dazu entschlossen. Tante Judith hat gesagt…“, begann ich meinen Verteidigungsversuch, bevor mich allmählich die Erkenntnis einholte. „Tante Judith hasst die Dämonen…Sie hasst meinen Vater. Hat sie all das mit der Vergewaltigung nur erfunden, weil sie es nicht ertragen hat, dass sich ihre kleine Schwester in einen Dämonen, für sie ein Monster, verliebt hat?“

Ein erfreutes Glänzen blitzte in Delias schwarzen Augen auf. „Glückwunsch! Du hast es verstanden! Ich schätze, manche Menschen können es einfach nicht akzeptieren, wenn sich jemand aus ihren Reihen in unserereins verliebt. Die Dämonen sind da kaum besser! Jeder zerreißt sich das Maul über die Geschichte, aber kaum einer kennt die Wahrheit!“, erklärte Delia fast ein wenig aufgebracht. „Und was ist die Wahrheit?“, hakte ich augenblicklich nach. Gerade folgten die Informationen Schlag auf Schlag, weshalb ich eine ausführliche Erklärung gebrauchen konnte.

„Die Wahrheit ist, dass sich ein Dämon und ein Mensch ineinander verliebt haben. Nicht mehr und nicht weniger. Dein Vater hat sich aus reinem Interesse ins Menschenreich geschlichen, wo er sich unbemerkt unter die Menschen gemischt hat. Er war ziemlich neugierig und hat es als eine Art Abenteuer betrachtet. Dort hat er deine Mutter getroffen und die beiden haben sich ineinander verliebt. Selbst als er sein Geheimnis enthüllt hat, hat das nichts daran geändert.

Da die Menschen jedoch niemals einen Dämonen in ihrer Mitte akzeptieren würden und mit der Enthüllung seines Geheimnisses auch sein Leben in Gefahr wäre, haben sie beschlossen, ins Dämonenreich zu gehen. Dort haben sie sich mehr Toleranz erhofft und wollten sich ein Leben aufbauen. Sie haben geheiratet, dieses Haus schön abgeschieden auf dem Land gekauft und hier eine Tochter bekommen“, erzählte mir Delia die Geschichte meiner Eltern.

„Ich bin hier geboren?“, erlaubte ich mir eine Zwischenfrage. „Ja, klar. Was denkst du denn? Im Grunde besichtigen wir gerade dein Geburtshaus. Das Kinderbett müsste noch im Elternschlafzimmer stehen“, antwortete Delia schulterzuckend, während ich mich noch ganz verwundert umsah. Hier sollte ich geboren worden sein? In diesem Haus oder zumindest im Dämonenreich? Die Enthüllungen der letzten Minuten überforderten mich haltlos.

Mein Vater hatte meine Mutter nicht vergewaltigt. Sie hatten sich geliebt! Sie hatten sich geliebt, hatten geheiratet und dann mich bekommen! Das war kein widerliches Verbrechen, sondern eine durch und durch himmlische Liebesgeschichte! Mein Herz fühlte sich plötzlich unglaublich schwer an, als mir eine Sache klar wurde. Das war noch nicht das Ende der Geschichte…

„Was…was ist passiert? Wenn sie doch so glücklich waren…Du hast von einem Verbrechen gesprochen…Was ist mit ihnen passiert?“, stammelte ich die alles entscheidende Frage zusammen. Wenn das Leben meiner Eltern so perfekt gewesen war, warum waren sie jetzt nicht hier? Warum war das Haus in diesem Zustand? Delia stieß ein tiefes Seufzen aus und wirkte plötzlich ernsthaft bedrückt. „Komm mit! Ich zeige es dir!“, sagte sie lediglich und bedeutete mir mit einer auffordernden Geste, ihr zu folgen.

Ich tat, wie mir geheißen, obwohl mich ein ganz mulmiges Gefühl erfasste. Jeder Schritt fiel mir unfassbar schwer, da ich spürte, dass ich mich einer unschönen Wahrheit näherte, die ich vielleicht gar nicht wissen wollte. Allerdings war ich hierher gekommen, um Antworten zu erhalten, und das schloss auch die unangenehmen ein.

Delia führte mich bewusst zur einzigen Tür im Haus, die geschlossen war. In jeden anderen Raum, Wohnzimmer, Esszimmer, Küche und selbst das Badezimmer konnte man im Vorbeilaufen hineinsehen, nur dieser eine war den Augen der Welt nicht zugänglich. Ich sollte gleich erfahren, warum.

Verflucht - Der TodespaktWo Geschichten leben. Entdecke jetzt