„Marley... schon mehr als zwei Jahre war ich nicht mehr dort..." ,stöhnte ich meinem Spiegelbild entgegen, als ich mein Haar richtete.
Am heutigen Tag sollte ich endlich an den Ort zurückkehren, den ich über Jahre mein Zuhause genannt hatte. Diese Stadt, in welcher ich als Spionin meinen Pflichten nachgegangen war. Die Gegend, in welcher ich in Freiheit gelebt hatte.
Doch vor fast genau zwei Jahren hatte ein Verrückter aus Paradies die Walze ausgelöst und somit Scharen von Titanen zum Festland geschickt. Ganze Städte wurden an jenem Tag auf unserem Kontinent zerstört. Tausende Menschen fanden ihr Ende. Es war ein Massaker gewesen, welches keiner der Überlebenden je vergessen würde. Diese Katastrophe – sie hatte der Menschheit unvorstellbare Grausamkeit aufgezeigt, nur um uns bewusst zu machen, wie skrupellos ein jeder werden kann, der sich eingeengt in einer kleinen Ecke befindet. Wie aussichtslos die Gefangenschaft auf dieser kleinen Insel gewesen sein musste, die Jahrhunderte lang von Marley tyrannisiert wurde.
Paradies selbst hatte sich damals gegen diesen einen Landsmann gestellt. Es hieß, eine Handvoll Soldaten habe seinem Tun ein Ende gesetzt und so die Menschheit gerettet. Ich selbst hatte dieser Geschichte etwas skeptisch Glauben geschenkt. Immerhin hatte ich dieses Monster damals gemeinsam mit meiner Kameradin Lina am Horizont entdeckt. Ein riesiges Wesen, welches selbst auf die Sonne einen Schatten geworfen hatte. Mir war bei seinem Anblick das Blut in den Adern gefroren, während die Schreie der Menschen meine Ohren hatten taub werden lassen.
Mehr als die Flucht zu ergreifen, hatten wir in diesem Moment nicht gewagt.
Lina und ich waren feige mit unserem Automobil in unsere Heimat geflohen. Niemanden hatten wir gerettet. Niemanden auch nur eine Chance des Überlebens aufgezeigt. Nein – am Ende war uns unser eigenes Leben wichtiger gewesen, was Lina immer wieder mit unserer Pflicht gegenüber dem Staat begründet hatte. Ihre Betonung dabei, dass dies von außerordentlicher Wichtigkeit gewesen war, hatte ich nur genervt abgenickt, während mein Herz zu schmerzen begann.
Und dieser Schmerz – er wollte nicht mehr gehen.
Seit jenem Tag hatte ich mich meinem Schicksal ergeben. Ich hatte der Hochzeit mit Werner von Goldwald zugestimmt, um meinen Vater endlich zum Schweigen zu bringen, nur um nach kurzer Zeit die Aufforderung nach Enkelkindern ins Gesicht geschmettert zu bekommen. Ich hatte meine Pflichten beim Militär niedergelegt, um meinem Ehemann eine Stütze bei seinen Geschäften sein zu können, doch mehr als seiner ständigen Kritik war ich niemals würdig gewesen. Und selbst beim Sex – selbst dabei konnte ich mich nicht von diesem gescheiterten Leben ablenken, denn es gab mir nichts. Rein Garnichts.
Werner war ein stattlicher Mann, der sicherlich einige Blicke mit seiner großen Gestalt auf sich zog. Ich musste es zugeben: Er war nicht nur durch seinen männlichen Körperbau beliebt bei den Frauen. Immerhin stammte er von einer reichen und wohlbekannten Familie ab, was bei einer Heirat großes Ansehen versprach. Doch im Gegensatz zu meinem Vater empfand ich dies alles weder als anziehend noch als wichtig, hatte ich doch niemals davon geträumt, zu einem Mann aufblicken zu dürfen. Nein – ich war eine Frau gewesen, die weder Reichtum noch Macht bei einem Mann suchte.
Wenn ich nun so in den Spiegel sah – wenn ich mich nun ein wenig schminkte, um mich für die Reise mit Werner vorzubereiten – erkannte ich mich selbst kaum wieder. Der neutrale Blick, diese leicht verzogenen Lippen und auch die kleinen Falten auf der Stirn, die durch das ständige Grübeln immer deutlicher wurden, zeigten mir, dass kaum mehr etwas von dieser starken Frau übrig war, an die ich mich in meinen Erinnerungen so gern festklammerte.
Wo war sie nur?
Wann würde ich sie wiedersehen?
Diese Fragen drückten sich in meinem Kopf, als ich mich langsam von dem Spiegel abwandte, um meinen Koffer zu schließen.
„-dN-, wir haben nicht ewig Zeit. Kommst du nun endlich?" , schallte es bereits von unten.
Da war er wieder: Der Stich in meinem Herzen. Werners Stimme holte ihn immer öfter hervor, als würde er mich quälen wollen.
„Ja, ja... Ich komme schon..." ,antwortete ich, während ich meine Tasche griff.
Marley – endlich würde ich in das Land zurückkehren, in dem ich mich einst glücklich zurückgezogen hatte, um meines Vaters Anforderungen zu entkommen. Endlich wieder von der Luft kosten, die ich fröhlich in mich eingesogen hatte, während ich meiner Lust gefolgt war. Unter Umständen würde ich ein wenig Zeit dort für mich haben, um mir selbst etwas Ruhe zu gönnen. Möglicherweise könnte ich sogar ein paar Bekanntschaften wiedertreffen, hier und da lachen oder gar einen Abend lang Spaß haben. Und vielleicht – aber nur ganz vielleicht – würde ich auch sie dort wiederfinden: Die Frau, die ich einst gewesen war.
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Spin Off - Grenzen vergessen Levi x Reader
RomanceWer sagt, dass das Schicksal immer gleich ablaufen muss? Wer meint zu wissen, wie sich ein Moment auswirken kann, während ein Andere das ganze Leben in sich verschluckt? Wer weiß schon, was das richtige Ende ist und was vielleicht nur ein Traum war...