32. Vergessen

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„Und hast du was gefunden?" ,fragte Levi mich, als auch er das Schlafzimmer betrat. Noch immer den Atlas in den Händen haltend, blickte ich ein wenig überrascht auf, bevor ich mich daran erinnerte, dass der Schrank mein eigentliches Ziel gewesen war. Ich lächelte verlegen.

„Nein... deine Bücher haben mich abgelenkt." 

Mit Schwung klappte ich das große Buch zu. Es knallte laut, sodass ich selbst leicht zusammenzuckte. 

„Da sind einige interessante Werke bei."

Levi nickte.

„Einige..." ,zischte er. Zunächst zu den oberen Regalflächen hinaufschauend, fügte er hinzu: „Lesen war nie was für mich, aber bevor ich nur noch durch die Gegend fahre oder aus dem Fenster starre, habe ich mir eure Schrift angeeignet und damit angefangen..." 

Seinen Stock lehnte er an die Wand, an welche er sich selbst abstützte. Ich beobachtete ihn: Wie sein Blick sich veränderte, sobald er mich ansah. Es schien, als würde er sich mir öffnen. Stück für Stück. 

Mit jedem Moment. 

Mit jedem Wort. 

Mit jeder Berührung. 

„Unsere Schrift?" ,fragte ich nach.

„Ja, auf Paradies haben wir ein anderes Alphabet. Keine Ahnung, ob es das noch irgendwo gibt..."

„In meiner Heimat und auch auf dem ganzen Kontinent schreiben wir so." Lautstark tippte ich mit meinem Finger auf den Titel des Atlanten, wobei ich Levi nicht aus den Augen ließ. Auch wenn er nicht nach meiner Heimat gefragt hatte, wirkte sein Blick aufmerksam.

„Woher stammst du überhaupt?" ,warf er nach einem kurzen Moment der Stille zwischen uns ein. Ich lächelte. Als wäre es nichts besonderes, setzte ich mich auf sein Bett und wartete auf seine Reaktion. Anfangs ein Zögern, dann ein Seufzen, bis er schlussendlich zu mir kam und sich zu mir gesellte. 

Und so schlug ich langsam eine Karten unseres Kontinents auf.

 Gemeinsam entdeckten wir die Welt. Nur auf dem Papier und dennoch - es war als würden wir dabei die Vergangenheit des anderen erkunden. 

„Dort bin ich geboren. Ziemlich weit im Norden... Eigentlich ist meine Heimat für seine tollen Küsten im Süden bekannt, aber dort ist es eher bergisch. Ach ja, und da habe ich in der letzten Zeit gewohnt" ,meinte ich. Mit meinen Fingern bereiste ich dabei die Orte, von denen ich munter erzählte. Ich fuhr die Gebiete ab, zeigte die Wege, die ich dabei hinter mich gelassen hatte, bis ich auf dieser einen Stadt stoppte, in der ich viel zu lange an Werners Seite gewesen war. Ein leises Seufzen entglitt mir, sodass Levi nun aufsah.

Seine Hand auf meinen Kopf legend, wuschelte er mir leicht durchs Haar, bevor auch seine Finger die Karte berührten. Er strich über sie herüber, von meiner Heimat zu seiner.

„Paradies ist im Gegensatz zu dem Festland klein... Schon verdammt lächerlich, wie groß es für uns wirkte, als wir das erste Mal zum Meer ritten... Von Erwin angetrieben, hatten wir alles getan, um es zu schaffen. Doch keiner hatte erwartet, dass die Welt hinter den Mauern..." 

Levi stockte kurz.

„...so tolle Frauen hat?!" ,ergänzte ich, woraufhin er mich nun skeptisch ansah. Ich kicherte. 

Schwungvoll ließ ich mich zurückfallen. Die Arme nach oben gestreckt, sah ich immer noch grinsend zur Decke und atmete tief ein. Die Bettwäsche duftete frisch und doch konnte ich einen Hauch von Levi's Duft darin ausmachen. 

„Und ohne Benehmen" ,kritisierte er. 

Doch er hatte unrecht, denn es war weder Anstand noch Feingefühl, welches mir fehlte. Ganz bewusst hatte ich ihn unterbrochen, kannte ich doch mittlerweile diese Momente, in denen das Leid seiner Vergangenheit nach ihm griff. Diese Erinnerungen, die seine Augen jedes Mal müde oder gar tot wirken ließen - ich war sie satt. Also verdrängte ich sie aus diesem Zimmer. Ich ließ sie ihn nicht einfangen, indem ich einfach redete. 

„Weißt du, ich stamme aus einem recht guten Hause. Zu so einer Dame wie mir sagt man so etwas nicht" ,schimpfte ich ein wenig und setzte mich dabei auf. 

„Ist das so?"

Levi's Ton war spöttisch, doch mein Grinsen wurde nur noch breiter.

„Sonst würde ich es nicht sagen... Da du mich eingeladen hast und nun sogar beleidigt... Mmmh... solltest du dir eine gute Entschuldigung einfallen lassen!" 

Ich lachte kurz, bevor ich seinen Arm griff. Nur ganz sacht, um ihn verstehen zu lassen. So wie er darum gebeten hatte, ihn nicht allein zu lassen, bettelte ich damit um mehr. Nicht für mich, vielleicht für uns und doch nur für ihn. 

„Vergesse es mit mir!" 

Das waren die Worte, die in meinem Kopf herumschwirrten, als ich ihn an mich heranzog. „Vergesse es, wenn auch nur für diese paar Minuten..." Denn dafür war ich an diesem Abend geblieben. Dafür und für das Stillen eines Verlangens, welches schon viel zu lange in mir selbst pulsierte. 





Spin Off - Grenzen vergessen Levi x ReaderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt