43. Nicht allein

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Ein wenig unsicher folgte ich dem langen Flur, mich immer wieder umblickend und in die offenen Türen hineinspähend. 

Auch wenn dieses Kinderheim an jeder Ecke den nicht gerade überragenden Zustand des Gebäudes offenbarte, strotzte es gleichzeitig vor Zuneigung zu seinen jungen Bewohnern. Hier einige gemalte Bilder der Kinder an den Wänden, dort kleine Holzharken in verschiedenen Farben, welche Handtücher oder Beutel beherbergten - alles war durchdacht und hatte nur ein Ziel: Den Kindern ihre weitere Zeit so angenehm wie möglich zu gestalten. Ich musste bei dieser Erkenntnis lächeln, auch wenn die Schwere in meiner Brust nicht weichen wollte. Auch dann nicht, als ich die alte Holztür zum Hinterhof öffnete. Sie knarrte laut und führte mich zur Veranda. 

Wie das Haus wirkte auch der Garten urig. Ein paar struppige Gebüsche und Unkraut brachen das Bild der ansonsten plattgetretene Wiese, welche von der großen Weide umarmt schien. Der Baum trug seine kargen Äste wie ein weißes Kleid, waren sie doch von der Kälte gezeichnet. 

„Warum bist du hergekommen?" ,fragte mich Levi. Seine Stimme ging im Gebrüll der Kinder, welches nur von Gabis Lachen übertönt wurde, fast unter. Die Jugendliche tobte anscheint mit ihren jüngeren Freunden, was sie lautstark kundtat.  

„Ich sollte euch die Kekse bringen..." 

 Mein Blick lag auf ihm wie die eisige Luft, die mir mit der nächsten Windböe entgegenschlug. 

Levi wirkte blass. Sein Gesichtsausdruck war plötzlich müde, obwohl ich wusste, dass ihm dieses Kinderheim wichtig war - dass er vielleicht sogar innerlich dafür brannte. Doch in diesem Moment war das alles fort. 

Er wandte sich ab, um das Spiel der Kinder zu beobachten. Sich nicht daran erfreuend, sondern es einfach wahrnehmend, als wäre es weder wichtig noch etwas besonderes für ihn. Ich presste meine Lippen zusammen. 

„Alles in Ordnung?" ,fragte ich nun, wobei ich einige Schritte auf ihn zuging, bis ich neben ihm stand. Sein Seufzen. Das Kinderlachen. Der Wind. Alles wirkte in diesem Augenblick wie ein Gemisch aus Tönen und ließ mich orientierungslos in der Kälte stehen, bis er diesen einen Satz plötzlich sagte und damit alles andere zu verstummen schien: 

„Ich werde nach Paradies gehen..." 

Obwohl er es so leise sagte, schienen seine Worte in meinem Kopf zu dröhnen. Meine Augen weiteten sich. Mein Atem stockte. Mich an den Teller, den ich soeben noch trug, festklammernd, spürte ich ein Beben in mir. 

„Was?" ,kam es mir noch über die Lippen, doch er schüttelte nur den Kopf.

„Keine Sorge. Ich habe nicht vor dort zu bleiben, aber... Ich sollte es nicht mehr länger aufschieben..." ,erklärte er. Erst jetzt sah er zu mir auf, nur um zu erkennen, wie unsicher ich war. Levi seufzte. „Du scheinst nicht gerade begeistert...."

„Ähm... Ich... Ich wundere mich nur..." ,stotterte ich heraus.

„Das tue ich selbst..." Seine Hand fuhr durch sein Haar, während er verbissen wegsah. „Scheiße."

„Also hast du es dir doch anders überlegt... Irgendwie hatte ich es für dich gehofft und doch... doch..." 

Sie fehlten mir: Diese Worte, mit welchen ich ihm Zuspruch geben konnte. Jetzt, wo ich wusste, dass er dort allein war. Nun, da ich erkannt hatte, dass dieses Land nicht auf ihn wartete. Sein Vorhaben bereitete mir dadurch sogar Kopfschmerzen, sah ich es doch bereits in Gedanken vor mir: Er allein am Hafen, den Blick nur in die Vergangenheit gerichtet. Dorthin, wo sie alle waren. Seine Kameraden. Und doch würde ihm niemand die Hand reichen oder gar auf seine Schulter klopfen.

Niemand.

Ich wollte das nicht. 

Nervös strich ich mit meinem Zeigefinger am Porzellan entlang. Immer noch vom Lachen der Kinder umgeben, hörte ich in mich hinein, bis ich meinen Gedanken einfach aussprach: „Dann komme ich eben mit."

Mein Herz klopfte wie wild, als ich seine Reaktion prüfte. Er sah wieder zu mir. Die Müdigkeit wie vom Wind hinfortgetragen. Mir fast schon ein Lächeln schenkend, blickte er mich an und nickte. 

„Ich weiß wohl nicht, was du auf dieser scheiß Insel willst, aber... Danke."

Viel zu lange allein - warum kam mir in diesem Moment Onyancopons Hinweis in den Kopf? Allein - nie wieder wollte ich an dieses Wort denken müssen, wenn ich Levi ansah. 

„Führst du mich dann ein bisschen herum?" ,fragte ich, um die Stimmung aufzuheitern oder gar ein wenig Vorfreude hervorzulocken. 

„Wenn ich noch etwas wiedererkenne..." ,antwortete Levi leise, bevor er mit einer Geste auf den Teller wies. „Wolltest du nicht die Kekse verteilen?" Seine Stimme wirkte ruhig.

„Ja, wollte ich." Eilig ging ich nun einige Schritte vor, bis ich endlich von einigen Kindern bemerkt wurde. Ich winkte ihnen zu, zunächst skeptisch beäugt. Doch es reichte nur ein Fingerzeig auf das Gebäck, um ihr Misstrauen zu verdrängen. Die Lust auf Süßes war eben stärker als jede Angst vor Fremden. Und so rannten sie auf mich zu - voller Freude, als wäre ich ein ihnen bekanntes Gesicht.

Ich grinste freundlich. Zunächst zu ihnen und dann zu ihm: Levi. Als ich nun zu ihm zurücksah, beobachtete er mit einem entspannten Lächeln. Sein Haar wehte im Wind. Es tanzte förmlich vor sich hin, während ich erkannte, dass ihm mein Vorschlag eine Sorge genommen hatte. Ich rieb meine Lippen aneinander, wobei ich den Kindern den Teller hinhielt, sodass die ersten kleinen Hände nach den Keksen griffen.

„Also gehen wir nach Paradies..." ,dachte ich dabei und schluckte schwerfällig. „Was mich dort wohl erwartet?"



Spin Off - Grenzen vergessen Levi x ReaderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt