7. Der stärkste Kämpfer der Menschheit

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„Hilfe!"
Fast untergehend im Getöse der Stadt schallte ein Rufen durch die Straßen. Ich sah mich verdutzt um, mein Blickfeld nervös flackernd. Woher kam es bloß?

„-dN-, dort!"
Onyancopon, welcher immer noch neben mir stand, zeigte plötzlich in eine Richtung. Seine Augen waren weit aufgerissen. Er wirkte konzentriert, wägte er wohl die Situation genau ab, während auch ich das Spektakel entdeckte: Eine junge Frau, die jemanden aufgebracht zu verfolgen schien. Es wirkte ein wenig komisch, fast schon unpassend, wie sie ihr langes Kleid hochhielt, um irgendwie rennen zu können.

Ich biss meine Zähne zusammen.
„Verdammt..."
Meine Faust ballend, bemerkte ich, wie meine Finger zu kribbeln begannen. Ja, ich kannte dieses Gefühl. Es war das Verlangen, etwas zu tun, um ein Schicksal zu ändern. Das Verlangen, jemanden zu helfen und für diese eine Person kein Niemand zu bleiben.

Ich musste es zugeben: Ich rannte in diesem Augenblick aus purem Egoismus los. Ich sprintete über die Straße hinweg, spürte bereits jetzt die Stiche in meinem Bauch, weil ich es unbedingt tun wollte. Diese eine Tat, an welcher ich mich aufwerten konnte. Eine Sache, die mir über einige Tage ein Lächeln ins Gesicht zaubern würde. Nicht mehr und nicht weniger.

Bereits jetzt verzogen sich bei diesem Gedanken meine Lippen, doch ich versuchte es zu unterdrücken, um konzentriert nach Vorne zu blicken. Immerhin sollte es mir gelingen. Nein, es musste mir gelingen. Nichts anderes würde ich von mir akzeptieren.

Langsam erkannte ich zwischen der Menschenmenge einen sich schnell bewegenden Schatten. Es musste ein junger Mann sein, der vor der Frau, die ich schon längst eingeholt hatte, wegrannte. Was auch immer er getan hatte, er wusste, dass es falsch gewesen war. Und ich wusste es ebenfalls, jetzt als ich ihn entdeckte.

Ich beschleunigte ein weiteres Mal und verlangte meinem Körper alles ab, was er noch zu leisten im Stande war. Immer näher kam ich diesem Kerl. Nur noch ein paar Meter und ich hätte ihn – das dachte ich in diesem Moment. Doch dann entdeckte ich ihn: Hinter einer Gruppe von Jugendlichen auftauchend, streckte er sein Bein ein wenig, als wäre es das Normalste der Welt. Wie ich, hatte der Flüchtige kaum mehr reagieren können, doch während ich nun stark abbremste, fiel er bereits im hohen Bogen durch die Luft. Seinen Aufprall auf dem Gehweg begleitete er mit einem schmerzerfüllten Schrei.

Erschrocken schaute ich den Verletzten an, nur um mich dann Levi zuzuwenden. Wie um alles in der Welt war er so schnell hier gewesen? Ich starrte auf ihn herunter, den gerade noch Flüchtigen beinah vergessend, bis Levis stechender Blick mich traf. Er wirkte plötzlich so selbstsicher, fast schon kampfbereit. Schwerfällig schluckend stand ich nun da, als er meinte: „Was wartest du noch?"

Ein Zucken ging durch meinen Körper. Ohne weiter zu überlegen, wandte ich mich ab. Meine Fragen konnte ich auch später klären, doch dieser Mann, der immer noch auf dem Boden zu kleben schien, musste überprüft werden, um eine weitere Flucht auszuschließen. Vorsichtig ging ich in die Hocke, bevor ich meine Hand auf seinen Rücken positionierte. Das Blut an seinem Kopf entdeckend, seufzte ich. Er musste ziemlich ungünstig auf dem Gehweg aufgeschlagen sein. So viel stand fest.

Meine Hände begannen ihr eingeübtes Spiel. Auch wenn meine letzten Einsätze ein paar Jahre her waren, wussten sie genau, was zu tun war und tasteten ihn vorsichtig ab. Immer wieder prüfte ich dabei seine Körperreaktionen, konnte ich doch niemals sicher sein, dass er nicht doch aufwachte und mir an die Kehle springen würde.

Es dauerte ein wenig, bis ich eine lange Perlenkette mit großem Anhänger in einer Hosentasche entdeckte. Sie wirkte etwas älter, auch wenn ihre Perlen mir glanzvoll entgegenschimmerten.
„Ah... da ist... sie..."
Auch die Besitzerin der Kette kam nun bei uns an. Angestrengt nahm sie ihr Schmuckstück entgegen, bevor sie sich an einer Hauswand anlehnte. Ihr Atem übertönte selbst das schmerzerfüllte Stöhnen des Diebes, der nun langsam zu sich zu kommen schien.
„Da...nke..." ,ätzte sie.

Ein wenig verlegen, blickte ich sie nickend an. So wirklich wollte das Gefühl von Freude nicht in mir aufkommen, hatte ich mir das Ganze doch ein wenig anders vorgestellt. Solch eine beiläufige Leistung – sie wirkte eher wie ein Trostpflaster auf meinem zermürbten Geist, der sich nach einer Heldentat gesehnt hatte.

Auch ein Polizist eilte nun herbei. Er sah zunächst zu der Frau, die anscheint für die nächsten Minuten kein Wort herausbekommen würde, nur um daraufhin mich abzulösen. Höflich bedankte er sich dabei, doch ich schüttelte den Kopf.
„Sie müssen ihm danken..." ,sagte ich und zeigte dorthin, wo Levi einmal gestanden hatte. Doch er war fort. Etwas irritiert blickte ich um mich herum. Seit wann war er schon nicht mehr hier?
„Seien Sie doch bitte nicht so bescheiden! Ohne Sie hätten wir diesen Kerl nicht festnehmen können. Das war gute Arbeit" ,fügte der Polizist hinzu, wobei er den Festgenommenen hochzog.

Meine Lippen pressten sich zusammen. Statt mich gut zu fühlen, hatte ich nun den Eindruck, selbst etwas genommen zu haben. Mir etwas angeeignet zu haben, was ich selbst nicht vollbracht hatte. Ich spürte den Knoten, der sich in meinem Hals bildete. War ich in diesem Moment nicht wie Werner, der sich mit etwas schmückte, was sein Vater erarbeitet hatte? War ich nicht genau so wie die Menschen, die ich nicht ausstehen konnte oder gar hasste, wenn ich dieses Lob annahm?

„Ich war das nicht..." ,meinte ich regelrecht geladen. Mein Herz klopfte wild, als ich mich kopfschüttelnd von dem Schauplatz entfernte, bevor dieser sich immer mehr füllte. Die ersten Schaulustigen trafen ein, so wie es immer war. Zur Belustigung oder für den nächsten Tratsch – alles war ihnen recht, um den Alltag etwas abwechslungsreicher zu gestalten. Diese Festnahme sollte dabei keine Ausnahme darstellen.

„Was war das denn eben?" ,fragte ich, während ich mich unauffällig zu Onyancopon stellte, der mir entgegengekommen schien. Er stand nun vor einer Boutique und wartete.
„Was meinst du?" , lautete seine Gegenfrage.
„Wie ist der denn so schnell da gewesen?" Ich posaunte sie heraus, diese Empörung, die ich nun spürte – ob durch Levis überraschendes Eingreifen oder meinem Versagen, das wusste ich nicht.
„Wer?" Onyancopon wirkte ein wenig überfordert. Er sah mich verwundert an.
„Wer wohl... Levi. Wie hat er das gemacht? Kann der fliegen oder...?"

Es war das laute Lachen meines Freundes, welches mich einfach unterbrach. Ich starrte ihn an. Meine Augen weit geöffnet, entdeckte ich sein Grinsen im Gesicht.
„Bei dem musst du dich nicht wundern, -dN-" ,erklärte er. „Er wurde nicht umsonst auf Paradies der stärkste Kämpfer der Menschheit genannt."

„Der stärkste Kämpfer der Menschheit?"
Meine Augen kniffen sich zusammen. Was hatte solch ein Titel wohl zu bedeuten?


Spin Off - Grenzen vergessen Levi x ReaderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt