Kapitel 11 { Zita }

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Hätte ich tatsächlich zugelassen, dass er mich hier an Ort und Stelle küsst?
Ja.
Hätte ich ihn einfach gewähren lassen, obwohl es in meiner Situation sowas von verboten ist?
Die Antwort lautet ebenfalls, ja.
Verboten wegen meines Vaters, verboten wegen Paolo und verboten, weil ich ihn überhaupt nicht kenne.
Muss ich gestehen, dass ich in den letzten zwei Stunden in der Bibliothek, nicht einen Gedanken an Paolo verschwendet habe?
Nicht einen.
Auch nicht an meinen Vater und darüber was richtig und was falsch ist.
Ich habe einfach nur mal an mich gedacht.
Habe ich Angst, mich plötzlich nicht mehr wieder zu erkennen?
Ich weiß schon lange nicht mehr, wer ich bin.
Bringst du mich wirklich dazu gegen all meine Prinzipien zu verstoßen, Fidelio?
Prinzipien und Regeln sind da, um sie zu brechen.
Ist es mit dir, wie in den Büchern?
Schlimmer.
Versuche ich mich zusammen zu reißen, aber weiß insgeheim, dass es schon viel zu spät dafür ist?
Es ist schon viel zu spät.
Du hast mich längst eingewickelt wie eine Spinne, ihr Opfer.
Ich bin schon viel zu weit mit dir gegangen.
Der Schock, dass Ambra gerade heute hier in der Bibliothek aufgetaucht ist, sitzt mir noch immer tief in den Knochen.
Sie wird es mir nicht verübeln, schließlich ist sie bis über beide Ohren verknallt, in deinen Freund Alfredo.
Mindestens genauso euphorisch, hofft sie, auf ein happyend für dich und mich.
Leider gibt es diese happyends nur in den Büchern.
Die Realität sieht leider immer anders aus.
Ihre Freundinnen sind es, die mir Angst machen.
Was heißt Freundinnen, vielmehr Schulbekanntschaften.
Ich weiß wie nett und treuherzig sie sein können, wenn sie wollen, ich kenne aber auch ihr anderes schäbiges Gesicht.
Nicht die aufgesetzte freundliche Maske, sondern ihr wahres Angesicht.
Ambra hat mir davon erzählt, dass sie für ein gemeinsames Abschlussprojekt am Wochenende, in die Bibliothek müssen.
Ich hab's schlichtweg vergessen, weil ich nur an dich gedacht habe.
Wie die ganzen verdammten letzten Tage.
Diese Mädchen sind hinterhältig und falsch wie die Schlange Kaa.
Ich habe mich fast zu Tode erschrocken, in dem Moment, als sie in unseren Gang von Büchern einbogen.
Ich muss weiß, wie eine Wand gewesen sein.
Was passiert wäre, wenn sie uns nicht mit ihrer Anwesenheit überrascht hätten, war nicht zu übersehen.
Das hätte ein Blinder mit Krückstock gesehen.
Was ebenso wenig zu übersehen war ist, dass du nicht Paolo bist, der mich gerade fast geküsst hat.
Gefundenes Fressen, für die hinterhältigen Luder.
Sie werden sich wie die Geier darauf stürzen, es Paolo brühwarm unter die Nase zu reiben.
Im Handumdrehen, würde ich zwei der wichtigsten Dinge in meinem Leben verlieren.
Paolo und der einzige Ort für mich, die Bibliothek.
Der Ort für ..
Ich will es gar nicht dazu kommen lassen, dass ich soweit denke.
Aber ich kann nicht anders.
Der einzige Ort für uns..., Fidelio.
Ich würde dich gleich mit verlieren.
Die Situation gerade eben hat mir gezeigt, wie schnell ich alles verlieren kann.
Wegen dir.
Stellt euch diesen strangen Moment aus unzähligen Liebesfilmen vor.
Es kommt fast zum Kuss zwischen den zwei Hauptpersonen.
Alles schön und gut.
Die Betonung liegt auf fast, weil es nicht dazu kommt.
Eine der beiden Personen unterbricht die Situation noch rechtzeitig und sagt, es war ein Fehler.
Ein Satz, den niemand in solch einer intimen Situation hören möchte.
Plötzlich schlägt die Stimmung um. Wie soll's auch anders sein?
Die eine Person legt ihrem gegenüber ihr kleines wild schlagendes Herz in die Hände, die andere Person  nimmt es und tritt darauf mit den Worten: Es war ein Fehler.
Es folgt unerträgliche emotionslose Distanz und plötzliche Kälte zwischen den beiden.
Keiner weiß mehr was er sagen soll, fühlen soll, beide wollen raus aus dieser abgerissenen Situation.
So ist es jetzt gerade zwischen uns.
Nur, dass keiner den Kuss unterbrochen hat, sondern er unterbrochen wurde.
Trotzdem gibst du mir jetzt das Gefühl, als wäre es gut wie es nun gekommen ist.
Als wäre es ein Fehler gewesen, wenn du mich doch geküsst hättest.
Erleichterung steht dir förmlich auf der Stirn geschrieben, Fidelio.
Ich sollte es als Fehler sehen, nicht du.
Du stößt mich wieder einmal von dir, wie du es bei eigentlich jeder Begegnung tust.
Wieder einmal frage ich mich, was tue ich hier überhaupt?
Für einen Augenblick, war ich wirklich so blöd zu glauben, dass da etwas zwischen uns sein könnte.
Dass du mich vielleicht wirklich magst, dabei bin ich einfach Teil deiner absurden Spielchen.
Das passiert scheinbar, wenn ich einfach nur mal an mich denke.
Ich fordere mein Schicksal heraus.
Du hast ganz schön viele Tattoos", werfe ich in den Raum um die unangenehme Stille zu durchbrechen.
Viel von seiner Haut ist nicht zu sehen. Lediglich die freien Stellen an seinen Armen unterhalb der hochgekrempelten Lederjacke und ein Teil seines Hals um den sich der Kragen legt.
Auch seine Hände sind von unzähligen Tattoos gezeichnet.
Zahlenkombinationen, Kreuze, Putten und ein großer Flügel, der sich fast bis zu seinem Ohr erstreckt.
1.1.6.7.
Die Zahlenkombination, die sich über die Finger seiner linken Hand erstreckt.
6.3.1.5.
Das ist die Kombination an Zahlen, die sich über die Finger seiner rechten Hand erstreckt.
Und du hast ganz schön wenig davon", erwidert er kühl und lässt dabei seinen reservierten Blick an mir herabwandern.
Um genau zu sein, kein einziges", füge ich hinzu und schmunzle.
Ein dezentes Lächeln schleicht sich über seine Lippen.
Hab's mir fast gedacht. In der Bibel steht nichts davon, dass Maria je Tattoos hatte", witzelt er vergnügt und zieht dabei die Augenbrauen nach oben.
Was würde ich bloß ohne deine urkomischen Witze tun, Fidelio?
Haben sie alle eine Bedeutung?".
Mehr oder weniger. Manche sind nur da, um Verbindungen zwischen den einzelnen Tattoos zu schaffen. Andere wiederum haben eine Bedeutung, ja", antwortet er, während er abwesend mit seinem Siegelring am Finger spielt.
Wenn ich mich nicht irre, ist es dasselbe Emblem wie auf seinem Unterarm.
Was bedeutet dieses hier?", frage ich und zeige mit dem Finger auf die Zahlenkombination auf seiner linken Hand.
1.1.6.7.
Erstes Buch Samuel, Kapitel 16, Vers 7.", erwidert er wortkarg.
Wenn mich mein Wissen nicht täuscht, ein bekannter Auszug aus der Bibel.
Ehe ich darauf reagieren kann sagt er: „ Es bedeutet, ein Mensch sieht, was vor Augen ist. Der Herr aber, sieht das Herz an".
Jetzt erinnere ich mich an die Geschichte aus der Bibel.
Für Gott sind - anders als häufig für uns -  nicht die äußeren Erscheinungen, sondern das Innere eines Menschen wichtig.
Bist du sehr gläubig?", frage ich äußerst überrascht.
War mir klar, dass ich damit dein Interesse wecke, Maria. Ich würde mich nicht als strengen versnobten Kirchengänger bezeichnen, aber ich glaube an eine höhere Macht. Außerdem stehen in der Bibel die ein oder anderen Dinge, die Sinn im Leben ergeben".
Das Tattoo beeindruckt mich.
Seine Sichtweise beeindruckt mich.
Er beeindruckt mich.
Willst du Gott nicht gefallen, oder warum verhältst du dich so oft so .. so wie du dich eben verhältst?"
Jetzt ist es schon soweit gekommen, dass Fidelio dessen äußeres Erscheinungsbild eher einem Anhänger Luzifers gleicht und ich, in der Bücherei sitzen, um über Bibelverse zu philosophieren.
Willst du aufhören mich einem Kreuzverhör zu unterziehen oder warum stellst du so blöde Fragen?", kontert er und seufzt dabei ermattet auf.
Ich will raus aus dieser unangenehmen Situation und halte es nicht länger aus, ihm noch weiterhin gegenüber zu sitzen.
Ein leises gemurmeltes: „Sorry", entweicht meinen Lippen, ehe ich mich von meinem Platz erhebe, um die geleerten Schalen unseres Frühstücks im Mülleimer zu entsorgen.
Er bleibt lässig auf seinem Platz sitzen und betrachtet mich dabei unausweichlich aus dem Augenwinkel.
Mit einem letzten Blick, beschließe ich kurzerhand unser Treffen zu beenden.
Ich muss sowieso in spätestens zehn Minuten los, also weshalb sollen wir uns weiterhin quälen, wenn scheinbar niemand von uns noch etwas zu sagen hat?
Ich werfe mir meine Tasche über die Schulter, greife mir das Buch welches ich mir ausleihen will und trete langsam aus dem Gang heraus.
Ich mache extra langsam, um ihm die Chance zu geben, noch etwas zu sagen.
Worauf warte ich eigentlich noch?
Ich wippe nervös auf den Fußsohlen auf und ab, doch das einzige was über seine Lippen kommt ist ein „Mach's gut, Kleines".
Steck dir dein Mach's gut Kleines in deinen unverschämten Arsch, Fidelio.
Ich verdrehe die Augen in den leeren Raum und begebe mich in Richtung Empfang, um die Buchausleihe anzumelden.
So ein blöder Arsch!
Hätte er nicht wenigstens „Bis bald, Kleines" sagen können?
Mach's gut, Kleines.
Man kann es drehen und wenden wie man will.
Es klingt in diesem Moment für mich, wie ein Abschied, für immer.

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