Kapitel 6.1 - Unbekannte Blicke

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Echo

Es war nach Sonnenaufgang und wir befanden uns noch immer in der Senke. Müde blinzelte ich in die dampfende Tasse in meinen Händen und kurz kam ich wirklich in die Versuchung, mir die warme Flüssigkeit ins Gesicht zu spritzen, um dadurch wieder wach zu werden. Seit ich aus meinem merkwürdigen Traum aufgewacht war, hatte ich nicht mehr geschlafen, dafür war die Angst zu groß gewesen.

Seufzend ließ ich meine Tasse sinken und schaute runter in unsere ehemalige Schlafgrube. ,,Wie lange müssen wir eigentlich noch warten?"

Mikhael, der gerade dabei war unseren letzten Schlafsack einzurollen, blickte zu mir auf. ,,Wir warten solange bis Caitlain und Fynch wieder da sind. Oder möchtest du etwa ohne die beiden aufbrechen?"

,,Ich möchte einfach nur weg."

,,Du kannst mir ja helfen", erwiderte Mikhael und deutete mit dem Finger auf den angesammelten Haufen aus Taschen, der neben mir stand. ,,Mach zwei schon Mal an Efeu fest. Wenn die anderen zurückkommen, sind auch Sommer und Dämmer schneller beladen."

Auf diese Antwort hatte ich eigentlich nicht gehofft...

Da ein Nein sagen praktisch unmöglich war, trank ich die letzten Schlucke von Caitlains speziellem Blättersaft-Tee und griff nach einem der Beutel. Efeu döste im Sonnenlicht, den Kopf auf den Klauen ruhend. Als er meine Schritte hörte, öffnete er die Augen und beobachte mich, allerdings blieb er liegen. Kurz streichelte ich ihm über den Rücken, dann begann ich den Beutel an seinem Reitgeschirr zu befestigen. Schnalle für Schnalle musste der Beutel befestigt werden, wozu konnte es auch einfach gehen, wenn ein Sha'Kmal-Reitgeschirr fünf Mechanismen besaß, um einen sicheren Transport zu gewehrleisten.

Als ich die vierte Schnalle erreichte, vernahm ich ein leises Knurren und Keuchen. Verwirrt schaute ich mich um und entdeckte dann Ven-Gahn. Getarnt als Federfuchs hielt er zwischen den Zähnen den Liederriemen einer Tasche und zog sie über den halbweichen Boden zu mir. Das Gewicht der Tasche war dabei nicht sein einziges Problem, das Hauptproblem stellte sein verletztes Bein da. Selbst jetzt, drei Tage später, war sein Bein noch nicht verheilt. Jeden Abend versuchte Caitlain ihn Stück für Stück weiter zu heilen, damit der komplizierte Bruch schneller heilte und die Schmerzen erträglicher wurden. Ein wenig konnte die tapfere Feuerseele ihr Bein belasten, aber selbst Caitlains fähige Hände konnten keine Wunder bewirken und so würden sowohl eine normale Heilung, als auch eine magische Heilung ihre Zeit brauchen. Und so stand mein helfender Freund nur auf drei festen Beinen, als er versuchte mir einen Teil unserer Ausrüstung zu bringen.

Bevor es zu einem weiterem Zwischenfall kommen konnte, trat ich dem Federfuchs entgegen und hob die Tasche auf. ,,Schon dich lieber, Vengy."

Etwas beleidigt legte Ven-Gahn die Ohren an, als ich ihm das schwere Lederstück abnahm. ,,Solltest du es nicht auch?"

Mit einem schiefen Auflachen ging ich zurück zu Efeu und begann auch diese Tasche an seinem Geschirr zu befestigen. Aus dem Augenwinkel nahm ich das feurige Aufleuchten wahr und ein paar Sekunden später hockte ein Eichhörnchen vor mir auf dem breiten Drachenrücken.

,,Wie soll ich mich jemals wieder ausruhen können?", grummelte ich wütend. ,,Wie kann ich nicht wissen, dass mich im nächsten Schlaf wieder so ein Traum heimsucht?"

,,Kein Traum, sondern eine visionelle Präsenz", korrigierte mich Ven-Gahn sogleich und hob mahnend eine seiner Pfoten. ,,Du weißt doch was Caitlain erzählt hat, es ist ein besondere Art der Visionen- und Traumpräsenz. Es ist eine Art Defekt der Psyche, die vor allem-"

,,Die vor allem Geist-Beschwörer betreffen kann – ja ich habe zugehört."

Und wie ich Caitlains Erzählung aufmerksam zugehört hatte. Bei der visionellen Präsenz konnte es passieren, dass das Unterbewusstsein Gefühle in den Körper zurück mitnahm, sobald dieser träumte oder in eine Vision geriet. Das Unterbewusstsein glaubte dann in einer realen Situation zu sein und fing alle Gefühle auf, um sie mit sich in den Körper zu nehmen. Und da Verletzungen in Träumen und Visionen nichts anderes als negative, vielleicht auch schmerzende, Gefühle waren, gelangten auch diese in den Körper zurück und entwickelten sich dort zu richtigen Verletzungen. Nichts sehr angenehmes, da taten mir die Geister-Beschwörer leid, die dies schon in früher Kindheit erlebten.

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