Kapitel 14.2 - Vergangene Nacht

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Laut drangen die Schreie durch die langen Flure und den Räumen des Anwesens. Sie waren laut, lang und hörten einfach nicht auf. Der Wind drang durch die geöffneten Fenster in die sonst stickigen Räume, ergriff die Schreie und trug sie mit raus in die Nacht, auf das sie für immer verstummten. Doch dem war nicht so.

In einem der Räume waren die gläsernen Türen zum Balkon weit geöffnet. Kalte Nachtluft drang in das Zimmer und ließ die Vorhänge vor den Fenstern wehen. Auf dem Balkon, an dem mit Rubinen und Amethysten verzierten Geländer, stand eine Gestalt. Vollkommen bewegungslos hatte sie die Hände auf das Geländer gelegt und schaute raus in die Nacht. Die Gestalt trug eine weiße Robe, die mit Gold und Edelsteinen verziert war. Auch die Hände steckten in Handschuhe: Schwarz wie die Nacht und über jedem Fingerknöchel ein kleiner Obsidian in der Form eines Ovals. Die Kapuze der Gestalt, war tief ins Gesicht gezogen, so dass man nichts außer die kleinen Dampfwolken sah, die bei jedem Atemzug aus dem Mund der Gestalt kamen.

Hinter ihm wurde die Tür der Bibliothek geöffnet. Er hörte Schritte, die über den glatten Boden zu ihm getragen wurden. Noch während er sich umdrehte, schob sich die Gestalt die Kapuze vom Kopf und ein junges Gesicht mit schneeweißer Haut und kastanienbraunem Haar kam zum Vorschein. Ein weiterer junger Mann mit derselben Hautfarbe, allerdings mit hellblonden, kinnlangen Locken, kam zu ihm gelaufen. Auch trug er eine Robe, die beinah mit der anderen identisch war. Nur waren die Edelsteine des Besuchers weiß und nicht schwarz.

,,Ich hätte wissen müssen, dass du hier bist", sagte der blonde Mann lächelnd. ,,Der Osmium ist immer dort anzutreffen wo es Bücher und Ruhe gibt."

,,Wie geht es Vater?", fragte Osmium, kaum das sein Bruder neben ihm am steinernen Geländer stand. In den letzten paar Minuten hatte er keinen von Schmerz verursachten Schrei mehr gehört.

Das Lächeln verschwand aus dem Gesicht von Osmiums Bruder.  Unbehagen war darin zu lesen. Er hatte schlechte Neuigkeiten, wahrscheinlich hatte er deswegen seinen älteren Bruder aufgesucht. Aber lieber Nesma mit schlechten Nachrichten als Veza, mit dem Osmium seit fast einer Woche im Konflikt stand.

,,Es geht ihm schlechter, auch wenn er gerade den Schlaf gefunden hat", sagte Nesma schließlich und seine Hände am Geländer verkrampften leicht – er war höchst sensibel. ,,Chathi sagt, dass er wahrscheinlich nicht mehr lange zu Leben hat." Ein feuchter Schimmer war in Nesmas hellblauen Augen zu sehen, als er zu Osmium blickte. ,,Ich soll dich bitten, Vater bald zu besuchen. Bevor er..."

Wild kopfschüttelnd fuhr sich Osmium durchs Haar. Er mochte es nicht diese Worte zu hören. Er wusste zwar, dass Nesma und auch seine anderen Brüder recht hatten, aber er wollte nicht das sein Vater starb oder das darüber gesprochen wurde.

,,Er wird nicht sterben."

,,Osmium..."

,,Er wird nicht sterben!"

,,Das wird man nicht ändern können."

Mit einem weiteren Kopfschütteln trat Osmium zurück. ,,Und was, wenn es eine Möglichkeit gäbe, Vater auf einer anderen Art zu helfen?"

Verwirrt runzelte Nesma die Stirn. ,,Wie meinst du das?"

,,Erinner du dich noch an die Theorie der Körperspaltung?"

Als Nesma den Kopf schüttelte, eilte Osmium nach innen in die Bibliothek. Von hinten vernahm er Nesmas zögerliche Schritte.

Die Bibliothek war einer der größten Räume des Schlosses und das dank den mehreren, hohen Bücheregalen, von denen manche bis zur Decke reichten. Mitten im Raum stand ein massiver Holztisch, der momentan ein Schlachtfeld aus Büchern war. Mehr als die Hälfte gehörte Osmiums Bruder Sesti, der noch mehr Zeit zwischen den verstaubten Büchern verbrachte als Osmium. Eine recht kleine Fläche hatte sich Osmium freigeschoben und zwei Bücher hinterlassen: Eins aus der Bibliothek und das andere war sein eigenes Notizbuch.

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