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Überall um mich herum weinte die Erde. Weinte wirklich die Erde oder weinten die Wesen, die auf ihr lebten? Ich konnte es hören, aber ich konnte es nicht sehen. Seit fünftausend Jahren sah ich nichts anderes als die Wände, zwischen denen ich gefangen war. Hören tat ich auch nicht viel. Nur Bruchteile vernahm ich.
Seufzend huschte ich zwischen den kristallenen Wänden. Vor einem Tag hatte die Erde einmal laut aufgeschrien. Als der erste Ätherkristall – die Quelle unserer Magie und das große Werk der Blinden Brüder – zerstört wurde, schrie die Erde auf. Es war geschehen. So viele Jahre hatte ich darauf gewartet und nun war es geschehen – mit meiner Unterstützung. Man könnte meinen ich hatte alles in die Wege geleitet oder war irgendwie schuld an dieser ganzen Situation, aber ich hatte nichts anderes getan als meinem Lebenssinn zu folgen.
Noch während ich durch die Wände glitt, spürte ich die Ankunft des Besuchers. Mein Körper bebte voller Vorfreude. Vor einigen Tagen erst hatte er mich besucht und ich hatte ihn einen Wunsch erfüllt. Und nun, nachdem er den Kristall zerstört hatte, kehrte er zu mir zurück.
,,Der Wunsch hat sich für dich gelohnt, oder?" Meine Stimme hallte durch die Wände, während ich zurück zu meinem Körper eilte. ,,Und nun kommst du zurück um deinen Teil einzuhalten?"
Mein Besucher erreichte meinen Körper vor mir. Er war stärker, dass spürte ich. Die Kraft gleich zweier großer Mächte durchflutete seinen Körper. Die dunkle Gabe und die Macht der Blinden Brüder...Kaum ein Wesen in Eridia war genauso mächtig – fast.
Mein Geist kehrte zurück in meinen Körper. Etwas müde bewegte ich meine Klauen und drückte mich hoch. Blinzelnd schaute ich auf Osmium herab. ,,Wo ist deine Maske?"
,,Brauche ich vor dir mein Antlitz zu verbergen?", fragte Osmium zurück. Dennoch strich er sofort über die Narben, die seinen Mund verzerrten. Seine Zunge fuhr über seine Zähne und die offene Stelle, wo sich eine Lücke in der Lippe befand.
,,Du hast so viel Macht und dennoch weigerst du dich diese Macht an dir selbst zu verwenden." Ich senkte den Kopf und neigte ihn nachdenklich zur Seite. ,,Angst, dass irgendetwas schief gehen könnte?"
Osmium verdrehte vielsagend die Augen. ,,Kannst du einmal deinen Hohn und Spott beiseitelegen?"
,,Bist du mir wirklich nachtragend? Ich stecke in einem Käfig, wie ein willenloses Tier. Aber schieben wir dies beiseite. Bist du hier, um deinen Teil unserer Abmachung einzuhalten? Bringst du mir einen neuen Körper?"
,,Ich werde dir keinen Körper bringen. Dein neuer Körper wird ganz von allein zu dir kommen."
Verwirrt zuckte ich zurück. ,,Ist das eine List?"
,,Würde ich es wagen, dich reinzulegen? Du bist der größte Täuscher Eridias. Ich komme kein bisschen an deine Fähigkeiten heran."
,,Das stimmt. Du bist nur ein guter Lügner..."
Drohend richtete ich mich auf und spreizte meinen Nackenschild. Zusätzlich streckte ich meine Tentakel vor. Ich war von Anfang an misstrauisch gewesen. Als Osmium das erste Mal an den Türen meines Gefängnisses geklopft hatte, hatte ich ihm nicht geantwortet und nicht geöffnet. Dann hatte mich Talond besucht. Ihm öffnete ich jederzeit die Tür und ich sprach immer mit ihm. Irgendwie hatte es Osmium geschafft ihn zu überzeugen ein gutes Wort bei mir einzulegen. Ich war verwirrt und verunsichert gewesen, vor allem, als ich Osmium das nächste Mal hereingelassen hatte. Er wollte zwei Dinge von mir – zwei Wünsche hatte er gehabt. Mit der passenden Gegenleistung seinerseits hatte ich die Wünsche erfüllt. Es war riskant gewesen, aber einem wahren Herzenswunsch konnte ich einfach nicht widerstehen. Zu verlockend und einfach zu schmackhaft...
Aber nun hatte ich meine Zweifel darüber, ob Osmium auch wirklich dazu bereit war seinen Teil einzuhalten.
,,Vergiss eins nicht, Osmium!", zischte ich ihn drohend an. ,,Solltest du deinen Teil unseres Handels nicht einhalten, werde ich nicht zögern einen deiner Wünsche rückgängig zu machen. Dann wird dich die dunkle Gabe schnell wieder verlassen."
Schon wieder verdrehte Osmium die Augen. In einer gelangweilten Geste wedelte er meine Worte wie eine lästige Fliege ab. ,,Ja, ja, ja. Ich kenne die Risiken und bin kein Narr. Ich weiß, dass du gewisse Bedenken mir gegenüber hast, aber eins verspreche ich dir: Ich halte mein Wort."
,,Hast du nicht einst deinen Brüdern auch etwas versprochen? Bevor du dich gegen sie wandest?"
,,Wie könnte ich dir denn etwas antun? Du siehst, dass ich inzwischen viel Macht besitze. Aber innerhalb deines Gefängnisses..." Mit einer umschweifenden Geste wies Osmium auf unsere Umgebung.
Jaaaa, damit hatte er recht. Keine Magie innerhalb der Wände funktionierte, bis auf meine. Aber selbst diese wirkte nur so weit, dass ich mich von meinem Körper lösen und durch die Gänge schweben konnte.
,,Ich möchte einfach wieder frei sein!" Mit einem dramatisch lang gezogenen Seufzen riss ich meinen Kopf in die Höhe. Mein langer, kräftiger Schweif schlug gegen die Kanten der Wölbung, die den Eingang meines Baus darstellte. ,,Hast du eine Ahnung wie es ist, seit fünftausend Jahren am gleichen Ort auf das Ende zu warten? Fünftausend Jahre lang habe ich kein Sonnenlicht oder den rauen Wind des Meeres auf meiner Haut gespürt. Ich habe nichts gerochen, nichts geschmeckt, nichts anderes als diese blauen Wände gesehen. Und ich habe Hunger!"
Osmium hörte mir reglungslos zu. Das ich laut wurde interessierte ihn nicht und wahrscheinlich langweilten ihn auch meine Beschwerden. Es wunderte mich deswegen nicht als er sagte: ,,Bist du fertig mit deinem Gemotze?"
,,Bring mir meinen neuen Körper!", brüllte ich wütend zurück. ,,Oder ich werde dir die Gabe wieder nehmen!"
Als mein Schweif ein weiteres Mal, dieses Mal jedoch viel fester, gegen die Kante in der Wand schlug, hörte man ein lautes Knacken und Risse zogen sich über den Kristall.
Beschwichtigend hob Osmium die Hände. ,,Beruhige dich. Du wirst deinen neuen Körper bekommen – keine Sorge. Es wird noch ein wenig dauern, aber bald wirst du wieder frei sein. Ich halte meine Versprechen. Aber ich muss jetzt auch wieder los."
Respektvoll und höflich verneigte er sich zum Abschied, dann drehte er sich um und lief zur großen Tür des Raumes. Ich sah ihm nach. Nachdenklich und beobachtete dabei seine kraftvollen Schritte. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, legte ich mich hin. Meine Vorderklauen übereinandergelegt und obendrauf meinen Kopf. Meine Tentakel legten sich über meinen Rücken und die dornenscharfen Fühler fielen an den Seiten meines Bauches herab.
,,Dieses Land wird wegen dir brennen", sprach ich die Worte aus, die mir seit dem Schrei des Landes vor einem Tag durch den Kopf gingen. Osmium hatte fast die Tür erreicht, blieb aber stehen. ,,Sag mir, oh großer und mächtiger Zeuge, kann ein Wunsch auch brennen?"
,,Wieso sollte er?"
,,Kannst du denn brennen?"
,,Wieso sollte ich?"
Die Winkel meines breiten Maules zogen sich hoch und in der Art meines Grinsens, entblößte ich meine kristallenen Zähne. ,,Durch dich werde ich einen neuen Körper kriegen, dadurch werde ich endlich meinen Käfig verlassen können. Und sobald ich diese heiligen Hallen verlasse, werde ich dich suchen und zu Asche verbrennen."
Osmium schaute über die Schulter zurück. Er grinste, was genauso wie bei mir mehr gruselig als freudig aussah. ,,Das hoffe ich doch."
Für den Bruchteil einer Sekunde blickten wir uns gegenseitig in die Augen, dann wandte sich Osmium ab und verließ den Raum. Ich verharrte noch lange in meiner Position, widerstand den Reflex meinen Körper zu verlassen und seine Schritte bis zu den Türen meines Käfigs zu verfolgen. Doch es dauerte nicht lange und seine Abwesenheit war zu spüren – nichts mehr Kraftvolles oder Einflößendes. Stattdessen vernahm ich wieder das Weinen der Erde. Meine Krallen tippten auf den harten Boden unter mir. Ein warmes, herrliches Gefühl breitete sich von meinem Herzen im ganzen Körper aus. Freude. So lange hatte ich dieses Gefühl nicht mehr erlebt und schon angefangen daran zu zweifeln, ob es überhaupt noch existierte.
Die Freude überdeckte meinen unstillbaren Hunger. Osmiums Worte hatten Hoffnung in mir geweckt. Nicht mehr lange und ich würde wieder alles und jeden fressen können.
~ Ende ~
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Daegor - Klinge und Kristall
FantasíaBAND 2 DER DAEGOR-REIHE Einst war Echo in den Augen ihrer Gesellschaft ein Niemand, nun ist sie die meistgesuchte Person des Landes. In der Hoffnung Schutz zu finden, führt der Weg sie und ihre Scalra-Beschützer in die Heimat der Sternenkinder. Doc...