11 | Flucht

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Wir ritten seit gefühlt zehn Stunden auf Gullfaxis Rücken. Dabei handelte es sich mutmaßlich erst um ganze sechzig Minuten. Meine Schenkelinnenseiten schmerzten. Vermutlich hatte ich einen Muskelkater. So wild wie gestern hatte ich mir meine erste Reitstunde nämlich nicht vorgestellt. Natürlich blieb mir keine Zeit zum Erholen, denn nein, ich saß einen Tag später schon wieder auf dem Pferderücken. Ohne Sattel. Ohne Zaumzeug.

"Wie weit ist es denn noch?", fragte ich wie ein trotziges Kind.

"Nicht mehr weit", quetschte der Kerl hinter mir zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

"Die Antwort hast du mir die letzten zweimal auch gegeben."

"Ich bin so froh, wenn ich dich bei meinem Großvater abliefern kann", murrte er.

"Abliefern? Heißt das, du verlässt mich danach?" Eine leichte Welle der Panik überkam mich. Dabei wusste ich selbst nicht wieso. Ich kannte den Typen hinter mir nicht, er ging mir die meiste Zeit gehörig auf die Nerven, und ich hasste die Art, wie er mit seinen Mitmenschen umging. Weshalb fühlte ich mich also in seiner Gegenwart beschützt und sicher? Warum könnte ich am liebsten anfangen zu heulen, nur weil er mich in dieser unbekannten Welt verlassen wollte?

"Sehen wir."

"Sehen wir?" Meine Stimme schwang eine Oktave höher. Er wollte mich tatsächlich alleine lassen! "Das kannst du nicht machen!"

Er brummte irgendwelche unverständlichen Wörter, ehe er meine Taille fester umfasste. Wieso er das tat? Ich bekam es keine Sekunde später mit.

Gullfaxi sprintete los. Der Wind wehte mir durch die Haare, und ließ meine blonden Locken in alle Richtungen fliegen. Meine Finger krallten sich, genau wie gestern, ängstlich in die goldene Mähne. Würde mich der Vollidiot hinter mir nicht fest umschlungen halten, würde ich augenblicklich den Boden küssen. Während ich dies tat, würde ich mir ganz sicher alle meine Knochen brechen.

Absolute Horrorszenarien spielten sich in Dauerschleife in meinem Kopf ab. Ich, wie ich am Boden lag, und mich nicht mehr bewegen konnte - Kein Rettungswagen würde mit Blaulicht zu mir gerast kommen. Ich, wie ich gegen einen Baum krachte, und an den Folgen des Kopfsturzes starb. Ich, wie Gullfaxi plötzlich einen Slide hinlegte, und mich über seinen Hals hinweg auf den Boden beförderte.

Bei jedem Galoppsprung wurde mir mulmiger zumute. Ich wollte schreien, dass wir langsamer reiten sollten, doch kein Laut schaffte es aus meinem Mund.

Dieser dämliche Trottel! Wie konnte er mir das bloß antun? Nur weil ich ihm wieder man auf die Nerven gegangen war? Deswegen musste er zu solchen Maßnahmen greifen?

Seine ständigen Stimmungswechsel machten mich irre. Wenn ich es mir recht überlegte, dann war ich eventuell bei einer Familie wie der des Bauern am besten aufgehoben. Nicht bei ihm, seinem noch dämlicheren Bruder, oder seinem komischen Großvater.

Es fühlte sich an, als würde mein Herz aussetzen. Denn Gullfaxi sprang über einen schmalen Bach hinüber. Die Flugphase kam mir unsagbar lang, und gleichzeitig absolut kurz vor. Ich schickte tausende Stoßgebete an ... keine Ahnung wen!

"Bitte. Bitte. Bitte", murmelte ich verzweifelt.

Während wir vorhin gemütlich geritten waren, hatte mir Mr. Namenlos mein Frühstück überreicht. Genau dieses Frühstück wollte ich jetzt am liebsten aus meinem Magen wissen. Doch ehe ich diesen Gedanken in die Tat umsetzen konnte, wurde Gullfaxi plötzlich langsamer.

Im ersten Moment konnte ich es nicht glauben, dass wir wieder in den Schritt gewechselt hatten. Meine Übelkeit verflog nach ein paar Sekunden. Dann drehte ich meinen Oberkörper zu dem Kerl hinter mir und funkelte ihn böse an.

Verknallt in einen Gott?! | ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt