56 | Überlebensinstinkt

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Jörmungandr war hier!

Ihr Kopf, und ein Teil ihres langen Körpers, lag auf der Insel. Sie zischte, offenbarte uns ihre spitzen, schneeweißen Giftzähne, und kam näher auf uns zu.

Mein Körper wurde nun doch von Panik erfasst, sodass ich einige Schritte zurücktaumelte. Magni verweilte an Ort und Stelle, richtete den Speer in ihre Richtung.

"Jörmungandr, sie sind keine Gefahr!" Der Fenriswolf sprang von seinem Felsen, wurde aber sofort an jeglicher weiteren Bewegung aufgrund seiner Fesseln gehindert.

Zischend drehte die große Schlange ihren Kopf in die Richtung ihres Bruders.

"Ischhh daschhhte, duschhh brauschhht Hilfschhhe." Ihre Zunge drängte sich immer wieder aus ihrem Maul heraus.

Während sie mit ihrem Bruder sprach, konnte ich sie für einen Augenblick genauer betrachten. Ihr Körper bestand aus unzähligen grünen Schuppen, die im Sonnenlicht tatsächlich silbern schimmerten. Eigentlich sah sie richtig majestätisch aus. Uhm, ja ... Eigentlich.

"Brauche ich auch. Diese Menschenfrau muss deinem Gift ausweichen, aber du darfst sie nicht verletzen!"

"Scherzzzt duschhh?"

"Nein, es ist mir ernst. Kannst du das für mich tun?"

"Fenrischhh, duschhh warschhht schhhon immerschhh merkwürdischhh."

Die Schlange wandte sich plötzlich wieder uns zu, sie züngelte immer wieder. Jörmungandr schlängelte sich zu uns, Magni hatte den Speer sinken lassen, wusste momentan irgendwie nicht so recht, was er tun sollte. Ich jedoch wusste es genausowenig. Würde Jörmungandr auf die Bitte ihres Bruders eingehen, oder war es ihr schlichtweg egal? Verflucht, mein ganzer Körper schlotterte vor Furcht. Wieso hatte ich nicht die Schleuder benutzt? Jetzt war es irgendwie zu spät dafür.

"Meinschhh Bruderschhh ischhht komischhh. Aberschhh guschhh." Sie hob den Kopf, schaute mich mit ihren gräulichen Reptilienaugen an. Ich konnte rein gar nichts aus ihnen lesen. "Ischhh schhhucke, duschhh schhhringst naschhh reschhhtschhh."

Eigentlich wollte ich sagen, dass ich absolut nicht bereit dazu war. Außerdem kam ich noch immer nicht ganz damit klar, dass eine riesige Schlange mit mir sprach, und mir in weniger als einer Minute Gift entgegenspucken würde. Das war ... schräg. Außerordentlich schräg.

Die Schlange zeigte mir ihre giftigen Zähne, dann spuckte sie mir das Gift entgegen. Es war vermutlich meinem Überlebensinstinkt zu verdanken, dass ich tatsächlich zur Seite sprang. Mein Gehirn hatte nämlich den letzten Satz der Midgardschlange noch immer nicht richtig verarbeitet.

"Oh Jörmungandr, du hast was gut bei mir!" Der Fenriswolf heulte glücklich auf, ich jedoch war froh, dem Gift tatsächlich entkommen zu sein.

Magni stand sofort neben mir, untersuchte meinen Körper gründlich, ob mich die Schlange wirklich nicht erwischt hatte.

"Ischhh kaschhh jaschhh schhho vieschhh voschhh dischhh verlangschhhen, woschhh duschhh aufschhh derschhh Inschhhel feschhhtschhhitzzzt."

"Willst du noch bleiben? Wir könnten ..."

Doch die Midgardschlange unterbrach den redelaunigen Wolf. "Ischhh muschhh loschhh."

Sie züngelte noch einmal in meine Richtung, schaute mich aus ihren Reptilienaugen an. Fast schon ein bisschen zu intensiv, sodass es mir eiskalt den Rücken hinablief. Dann musterte sie meinen Halb-Riesen, wandte sich aber zum Glück rasch ab, und verschwand zurück ins Wasser.

"Sie hat es immer eilig", murrte der Fenriswolf, setzte sich wieder hin, und schaute der Schlange nach, bis sie nicht mehr zu sehen war. Das Meer beruhigte sich schnell wieder, und bald war der Wellengang so niedrig wie anfangs.

Ich konnte die komplette Situation irgendwie noch immer nicht recht fassen. Hatte ich soeben den Fenriswolf und die Midgardschlange getroffen, und die Aufgaben von Odin erfüllt? Ich wusste nicht wirklich, ob ich vielleicht träumte. Aber war das alles dann nicht ein Traum? Und meine Liebe zu Magni fühlte sich auch so echt und schön an. Nein, das hier war gerade tatsächlich alles passiert.

"Wollt ihr noch ein bisschen bleiben?" Der Fenriswolf schaute uns hoffnungsvoll an. Er hatte den altbekannten Hundeblick, obwohl er ein Wolf war, fantastisch drauf. Wie könnte ich da verneinen?

"Also eigentlich ...", begann Magni, doch ich schnitt ihm das Wort ab.

"Ja, wir bleiben noch ein bisschen."

Magni setzte sich mit einem gewaltigen Abstand gegenüber des liegenden Fenriswolfes. Ich saß neben dem Wolf, und strich immer wieder durch sein langes Fell. Auch Gullfaxi schien sich irgendwann zu beruhigen, und legte sich auch auf den sandigen Boden. Allerdings mit einem noch größeren Abstand zum Wolf, als Magni.

Wir erzählten uns Geschichten, vorwiegend über meine Zeit hier in der Vergangenheit, aber es war richtig schön und unterhaltsam. Magni beteiligte sich nur mäßig an dem Gespräch, aber mir sollte es recht sein.

Der Fenriswolf war kein Einzelgänger. Eigentlich tat ihm Gesellschaft richtig gut, und es schmerzte mich sehr, ihn wieder alleine zurücklassen zu müssen.

"Wenn du wieder in deiner Zeit bist, kannst du dann den Menschen von mir erzählen?"

"Oh, liebend gerne. Mir wird zwar niemand glauben, aber ich werde nicht aufhören, von dir zu reden." Ich lächelte den Wolf an, und stand auf, als sich auch die Sonne langsam auf den Weg machte, um sich für heute zu verabschieden.

"Meine Gefangenschaft wird nicht mehr lange dauern, und dann werde ich Odin finden."

"Ich wünsche mir für dich, dass du irgendwann glücklich sein kannst."

"Das werde ich sein, wenn diese Ketten endlich von meinen Pfoten gesprengt werden."

"Ja, Freiheit ist das größte Gut, das man haben kann."

"Das weiß man vermutlich erst dann, wenn man sie nicht mehr hat", murmelte der Wolf. "Vielleicht sehen wir uns eines Tages wieder", meinte er nun an Magni gewandt.

"Vielleicht", murrte Magni.

"Danke für deine Hilfe. Wirklich." Ich lächelte dem Fenriswolf noch ein letztes Mal entgegen. Er neigte den Kopf, setzte sich auf einen Felsen, und schaute uns dabei zu, wie wir auf Gullfaxis Rücken stiegen.

"Leb wohl, Menschenfrau."

"Leb wohl." Ich winkte ihm, und mein Herz wurde schwer.

"Bist du bereit?", wollte Magni von mir wissen.

"Ja", hauchte ich leise.

Mein Halb-Riese schlang seinen Arm fest um meine Mitte, und hielt mich gut fest. Meine Finger krallten sich zusätzlich in Gullfaxis goldene Mähne, um selber auch Halt zu finden.

Der Hengst nahm ein wenig Anlauf, und preschte dann über die Wasseroberfläche. Aufgrund der salzigen Tropfen, die immer wieder in meinem Gesicht landeten, schloss ich meine Augen. Ich konnte zwar nichts mehr sehen, aber spürte deutlich den Blick des Fenriswolfes, der uns nachschaute, bis wir für ihn nicht mehr erkennbar waren.

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