Nicht einmal in den ersten paar Tagen, in denen ich im Hospital gearbeitet hatte, hatte ich so wenig Spaß gehabt. Jedes Mal, wenn ich Reyu sah, wenn ich ihm zufällig über den Weg lief, wenn wir uns beide nicht ansehen wollten, erinnerte mich ein kleiner Stich im Herzen daran, wie anders es hätte laufen können.
Vielleicht wäre das Gefühl seiner Lippen auf meinen nicht nur eine Erinnerung, die so unfassbar weit entfernt schien. Vielleicht wäre sein Lachen kein so seltenes Ereignis, das man kaum alle paar Tage mal zu Gesicht bekam. Vielleicht wäre seine Berührung nicht nur etwas, nachdem ich mich vergeblich sehnte.
Natürlich hätte ich nun die Möglichkeit, in einem der Gasthäuser zu übernachten, die inzwischen nicht mehr vollkommen überfüllt waren. Oder ich könnte Anaya fragen, ob ich bei ihr unterkommen könnte. Dann würde ich Reyu viel seltener sehen und wenn, dann nur an belebten Orten und nicht unter vier Augen bei ihm zuhause. Sicher könnten so einige unangenehme Situationen vermieden werden - und doch zögerte ich.
Zum einen wollte ich in seiner Nähe sein. Nicht nur, weil ich mich zu ihm hingezogen fühlte, auch, weil ich mit ihm umgehen konnte. Ich wusste, mit was er zu kämpfen hatte und ich hatte ihm schon einmal mit einer Panikattacke geholfen. Auch wenn er das vermutlich sofort ablehnen würde, ich wusste, dass ich ihm wieder helfen konnte.
Zum anderen hatte er mir nicht gesagt, dass ich ausziehen sollte. Ich hatte zwar fast damit gerechnet, doch er hatte sich nie dazu geäußert, dass ich noch immer bei ihm wohnte. Irgendwo schien er mich also wohl noch um sich haben zu wollen und das gab mir den winzigen Hoffnungsschimmer, dass er es sich doch anders überlegen würde. Natürlich hatte er seine Gründe, die ich nur zu gut nachvollziehen konnte. Auch ich hatte nach Ashan gedacht, ich würde keine Beziehung mehr führen können und ich konnte mir vorstellen, wie viel schlimmer es sein musste, wenn man es nicht freiwillig beendete, sondern die andere Person mit Gewalt aus dem Leben gerissen wurde.
Dennoch.
Er wollte mich schützen, wenn ich sehr wohl selbst für mich sorgen konnte. Er wollte mir mein Leben einfacher machen, indem er es so viel komplizierter machte. Er wollte mich von sich fernhalten, wenn mich doch nach nichts anderem sehnte, als ihm nahe zu sein.
Ein tiefer Seufzer entwich mir. Wieso konnte ich mich nicht in irgendwen verlieben, der mich auch wollte?
“Hör auf damit.”
Verwirrt hob ich den Kopf. “Hm?”
“Du denkst schon wieder an ihn.” Anaya bedachte mich mit einem strengen Blick und verschränkte die Arme vor der Brust. “Hör auf damit. Das tut dir nicht gut.”
“Ich denke gar nicht an ihn”, grummelte ich und wandte mich wieder der Wanne vor mir zu, in der ich mit kaltem Wasser Blutflecken aus Bettwäsche wusch, um sie danach wiederverwenden zu können.
Eigentlich hatte ich niemandem von der ganzen Sache erzählen wollen, doch Anaya hatte meine Laune natürlich bemerkt und mich so selbstverständlich unterstützt, dass ich fand, dass sie die Wahrheit verdient hatte. Jetzt dachte sie sich immer wieder neue Gründe aus, wieso Reyu ein abstoßender, ekelhafter Geier war, um mich von meinem Liebeskummer abzulenken.
“Wir haben gleich Feierabend und ich habe dich heute noch kein einziges Mal lächeln sehen”, stellte Anaya fest und schüttelte den Kopf. “So geht das nicht. Du kommst nachher noch mit zum Markt. Da werden wir schon sehen, ob wir dich nicht auf andere Gedanken bringen können.”
“Muss das sein?”, wollte ich wenig begeistert wissen. “Ich würde wirklich lieber einfach nach Hause gehen.”
“Kennst du mich inzwischen nicht besser?”, fragte Anaya und schüttelte übertrieben enttäuscht den Kopf. “Tz tz tz.”
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Burning Jade in a Sea of Amber
Fantasy// Band 2 // Knirschende Knochen, sickerndes Blut und qualvoller Tod - nichts als Alltag im Leben von Reyu, der seit dem Ende des Krieges in der lazalischen Kleinstadt Zintabur als Heiler im Hospital arbeitet. Kaum einer kennt ihn als mehr als einen...