Vorsichtig hob ich den Blick und sah Valia an. Ich war vorbereitet auf Ablehnung in ihren Gesichtszügen, doch ich irrte mich - ihr Blick war sanft, liebevoll, und sie akzeptierte die Neuigkeit mit einem einfachen Nicken.
"Erzählst du noch zu Ende?", fragte sie leise nach.
Mit einem langsamen Kopfschütteln starrte ich sie an. "Ist dir das egal? Dass ich unzählige Leben beendet habe? Sowohl Lazaliv als auch Caraliv gefoltert habe?"
Valia seufzte leise und lächelte mich zaghaft an. "Reyu, ich kenne dich. Du bist bis an die Zähne bewaffnet, schläfst nicht ohne Messer in nächster Nähe, sprichst mit genau drei Leuten mehr als zehn Wörter am Tag und schweigst deine Vergangenheit so tot, wie ich es noch nie bei jemandem erlebt habe. Ich habe nicht damit gerechnet, dass du dein Geld früher als Blumenverkäufer und Pfleger der Alten und Schwachen verdient hast."
Sie trat einen Schritt auf mich zu und nahm meine Hand sanft in ihre. "Ich habe dich auch als Roten Falken lieb. Oder als grünen Maulwurf oder blaue Fliege."
Unwillkürlich musste ich lachen, als sie den Namen so ins Lächerliche zog. "Glaub mir, ich habe mir nicht ausgesucht, so genannt zu werden. Das ist ziemlich dramatisch."
"Findest du? Es hat schon Stil. Und ich bin mit dem legendären Mörder des lazalischen Königs zusammen, das hat auch was."
Eine Welle der Dankbarkeit für sie überrollte mich und ich lehnte meine Stirn sachte an ihre. Ich fand keine Worte, um das auszudrücken, was ich empfand, doch Valia schien mich auch so zu verstehen. Ein sanftes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht.
Für einige Sekunden verharrten wir so, dann entschied ich mich doch dazu, ihr den Rest der Geschichte noch zu erzählen.
"Für mehrere Jahre hat das alles gut funktioniert. Ich habe in Rokthan gewohnt, wenn ich mich nicht für einen Auftrag irgendwo einschleusen musste. Dort habe ich Rajana kennengelernt und wir haben nach einem Jahr geheiratet. Da war ich sechsundzwanzig. Wir waren glücklich zusammen, sie hatte immer Verständnis dafür, wenn wir uns wegen eines Auftrags länger nicht sehen konnten. Vier Jahre nach unserer Hochzeit wurde Prinzessin Kaira aus Arnarith verbannt und fast ein Jahr später hat sie ihre Verlobung mit König Azvar bekannt gegeben. König Zokaar hat mich von meinem derzeitigen Auftrag abgezogen und zu sich bestellt. Er war wütend. Er wurde von seiner eigenen Tochter hintergangen und er wollte sie dafür bestrafen. Ich sollte mich als caralischen Soldaten ausgeben - unterstützt von seinen Spionen in der caralischen Armee - und ihr nahe genug kommen, dass ich sie töten könnte."
Valia schüttelte langsam den Kopf. "Das ist grausam."
"Ich weiß. Aber es waren nunmal Befehle. Und inzwischen war nicht nur mein Leben das, das er nehmen und zerstören konnte, sondern auch das meiner Frau. Mir musste also ausnahmslos jeder Auftrag gelingen."
"Ist es dir aber nicht", stellte sie leise fest und ich nickte mit einem leisen Seufzen.
"Es lief anfangs gut. Ich konnte gut als Soldat im Palast aufsteigen - wenn du dich nicht auffällig verhältst, achtet auch niemand darauf, welche Farbe dein Blut hat. Und den ein oder anderen, der es doch bemerkt hat, musste ich verschwinden lassen."
Die Zeit im Palast war in meiner Erinnerung nur eine undefinierbare Spanne aus Alltag und Routine, nichts Besonderes, nichts Gefährliches. Das, was danach gekommen war, ließ alle Geschehnisse davor verblassen.
"Schließlich hatte einer von Zokaars Mitstreitern mir einen Platz in der königlichen Wache besorgt. Ich war Kaira so nahe wie noch nie. Ich bewachte ihre Gemächer und Besprechungsräume, habe langsam ihre Gewohnheiten und Tagesabläufe studiert. Aber der König war vorsichtig - nachdem Najik, damals noch Prinz, aus dem Palast befreit wurde, hat er die Kontrollen und Sicherheitsvorschriften erhöht. Ich wusste, dass ich schnell handeln und danach schnell verschwinden musste. Also habe ich mich darauf vorbereitet, sie zu töten. Es würde nicht schwer sein, ihr einen Dolch in den Hals zu rammen, ich musste nur darauf achten, danach noch einen Fluchtweg zu haben."
Für einige Sekunden verstummte ich und spürte sowohl Valias als auch Tyraks Blick auf mir ruhen. Vielleicht hatte ich bisher nicht einmal ihm so ausführlich davon erzählt.
"Ich weiß bis heute nicht, wer oder was mich verraten hat. Aber ein paar Tage, bevor ich es geplant hatte zu tun, wurde ich entdeckt. Die Caraliv haben mich in die Kerker gebracht und König Azvar hat mir versprochen, dass Kaira niemals davon erfahren und dass ich niemals mehr das Tageslicht erblicken würde. Ich hatte versagt."
Eine sanfte Berührung an meinen Fingern ließ mich aufblicken. Valia drückte meine Hand sachte und ermutigte mich mit einem Nicken weiterzusprechen.
"Natürlich wollten sie wissen, wer ich bin. Für wen ich arbeitete, ob noch jemand versuchen könnte, Kaira zu töten. Die Generalin hat alles versucht. Aber ich wusste, dass ich nicht reden durfte - sollte ich den König verraten, würde er Rajana umbringen. Also habe ich geschwiegen. Zwei Monate war ich dort und habe gelitten. Für sie."
Valias Hand in meiner wirkte beruhigend. Ich schloss die Augen und drückte sie kurz, bevor ich weitersprach.
"König Najik hat sich, glaube ich, dafür eingesetzt, dass ich nach der Hochzeit des Königspaares freigelassen wurde. Für ein paar Tage haben sie mich im Palast noch behandelt und dafür gesorgt, dass ich nicht verblute, dann haben sie mich zu meinem Bruder gebracht. Naevan hat Zath engagiert, um mich zu versorgen. Es hat Tage gedauert, bis ich wieder ansatzweise ansprechbar war. Und dann habe ich herausgefunden, dass alles umsonst war. König Zokaar war wütend, dass ich verhaftet wurde, und diese Wut hat er an Rajana ausgelassen. Er hat sie für mein Versagen bezahlen lassen. Nur wenige Tage nachdem ich verhaftet wurde. Und ich habe mich zwei Monate mit dem Gedanken an sie am Leben erhalten, einen winzigen Funken Hoffnung glühen lassen. Umsonst. Alles völlig umsonst. Ich hätte in diesem Kerker sterben sollen."
Ich spürte, wie Valias Arme sich sanft um mich schlossen. Einige Sekunden brauchte ich, bis ich mich mit diesem Körperkontakt entspannen konnte, doch dann erwiderte ich die Umarmung. Sie brauchte keine Worte, um mir ihr Mitgefühl zu zeigen.
Für einen Moment traf mein Blick den meines besten Freundes und ich wusste, dass ihm die kleine Lücke in meiner Erzählung nicht entgangen war, die ihr offenbar nicht auffiel. Mit einer stummen Bitte zeigte ich ihm, dass das auch so bleiben sollte. Kaum merklich nickte er mir zu.
"Ich bin froh, dass du nicht in diesem Kerker gestorben bist", nuschelte Valia leise und auf meinem Gesicht erschien ein trauriges Lächeln.
"Du weißt noch nicht alles."
Sie sah zu mir auf, ohne sich von mir zu lösen. "Was kommt denn jetzt noch?"
"Ich habe seit Monaten nichts vom König gehört. Ich dachte, Najik hat die Ansprüche auf meine Dienste nach dem Tod seines Vaters aufgegeben. Aber dem ist offensichtlich nicht so."
"Ein neuer Auftrag. Deswegen musstest du nach Samalfar", stellte sie leise fest und ich nickte.
"Ja."
"Wer ist es?", fragte sie und an ihrer Stimme wurde deutlich, dass ihr klar war, dass es nicht einfach irgendjemand sein konnte. Sonst würde ich den Befehl einfach ausführen.
Ich schwieg einige Sekunden, konnte ihr nicht in die Augen sehen. "Ein Mitglied des Führungszirkels der Schwarzen Krone."
Und meine letzte, minimale Hoffnung auf ein Missverständnis, auf einen Irrtum verpuffte, als sie sich bei diesen Worten abrupt von mir löste und mich mit Entsetzen in den Augen anstarrte.
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Burning Jade in a Sea of Amber
Fantasía// Band 2 // Knirschende Knochen, sickerndes Blut und qualvoller Tod - nichts als Alltag im Leben von Reyu, der seit dem Ende des Krieges in der lazalischen Kleinstadt Zintabur als Heiler im Hospital arbeitet. Kaum einer kennt ihn als mehr als einen...