"Du hast gesagt, du fühlst dich bereit dafür."
"Das bin ich auch." Im Gegensatz zu seinem Blick war meiner ruhig, als ich Tyrak in die gelblichen Augen sah. Was nicht hieß, dass ich es auch war, ich verbarg meine Unruhe nur besser.
"Du bist nicht bei der Sache", warf er mir vor.
"Ich weiß", gab ich ihm seufzend recht.
"Wo ist denn deine Skrupellosigkeit? Es ist drei Monate her, Reyu."
"Es ist alles gut. Ich werde mich mehr konzentrieren", versicherte ich ihm und straffte meine Schultern.
“Es ist in Ordnung.”
Verwirrt sah ich ihn an. “Was?”
"Es ist in Ordnung, wenn du es nicht kannst.” Zu meiner Überraschung wurde Tyraks raubvogelartiger Blick etwas nachsichtiger. “Wir haben noch andere Leute. Du musst es mir nur sagen. Ich bin nicht nur dein Vorgesetzter, ich bin auch dein Freund. Und Letzteres fast fünfundzwanzig Jahre länger."
Mühsam rang ich mich zu einem kleinen Lächeln ab. In letzter Zeit hatte ich nicht mehr das Gefühl gehabt, dass der letzte Satz noch stimmte. Wenn ich nicht gerade so durch den Wind wäre, würde ich mich tatsächlich darüber freuen.
"Du musst keine Rücksicht nehmen", versprach ich. "Gehen wir wieder rein?"
Tyrak warf mir einen prüfenden Blick zu, nickte dann aber und trat als Erster wieder in den kleinen Kellerraum. Der Caraliv versuchte unruhig, seine Handgelenke von den Seilen zu befreien, die ihn mit dem Rücken zu uns an den Stuhl fesselten. Als wir eintraten, hörte er schlagartig damit auf und verrenkte sich den Hals, um uns entgegenzublicken.
Wie schon zuvor bezog ich direkt hinter ihm Stellung, den Dolch wieder in der Hand. Er wurde wieder nervöser, als er die Klinge aus dem Augenwinkel sah, doch er kam nicht gegen die Fesseln an, geschwächt wie er war.
Tyrak ging vor ihm in die Hocke, der Gesichtsausdruck nun wieder verschlossen, der Blick eisig. "Fangen wir doch nochmal von vorne an." Seine sanfte Stimme verbarg kaum die Klauen, die unter seiner Maske lagen, bereit zuzuschlagen, ihr Opfer zu zerfleischen. "Wir wissen, dass du für die Schwarze Krone arbeitest. Wir wissen, dass du für sie nicht bedeutungslos bist. Was wir nicht wissen, ist, wo und wer eure Anführer sind. Wie viele Mitglieder ihr habt. Ob ihr das verunstaltete Wappen an die Häuser gemalt habt, um uns die Schuld daran zu geben."
Der Kopf des Caraliv rollte zur Seite. Der Blutverlust hatte ihn schon öfter ausgeknockt. Mit einer Ohrfeige holte Tyrak ihn wieder aus der Ohnmacht.
Scharlachrotes Blut sickerte durch die Kleidung des Gefangenen, lief seinen Arm hinunter und über die Finger auf den Boden. Für einige Sekunden war das leise Tropfen alles, was die Stille durchbrach. Wieder sackte der Kopf des Caraliv kurz zur Seite, diesmal wachte er aber davon schon wieder auf.
Ich spannte jeden Muskel meines Körpers an, um das Zittern meiner Finger zu verbergen. Mitleid. Ich hatte Mitleid mit diesem Abschaum, weil ich genau wusste, wie er sich fühlte. Die Hilflosigkeit war das Schlimmste. Das Gefühl, ausgeliefert zu sein. Nichts tun zu können.
Mühsam zwang ich mich zur Konzentration. Jetzt war nicht die Zeit.
Der Caraliv kniff die Augen zusammen. Ich wusste, dass er mit der Ohnmacht kämpfte. Dann spuckte er dem Mann vor ihm ins Gesicht und begann wieder gegen die Fesseln zu kämpfen.
Ich brauchte keinen auffordernden Blick von Tyrak, um die Hand zu heben und sie auf die Schulter des Gefangenen zu legen. Langsam drückte ich zu, direkt unterhalb des Schlüsselbeins, direkt auf die Wunde.
Blut drang durch die ohnehin schon durchtränkte Kleidung, benetzte meine Finger. Der Caraliv hörte auf sich zu wehren und ein Brüllen löste sich aus seiner Kehle. Schweißperlen bedeckten seine Stirn, die im Licht der einzelnen Fackel glitzerten.Nach einigen Sekunden hob Tyrak eine Hand und ich nahm den Druck von der Wunde. Der Gefangene war wieder für einige Sekunden bewusstlos, dann begann er zu sprechen. Krächzend, leise, kaum verständlich.
"Wir haben in jeder größeren Stadt einen Anführer. Ich kenne nur den aus Isemdir", flüsterte er. "Ich weiß aber seinen richtigen Namen nicht. Ich bin nur Botschafter. Wirklich. Bitte."
Wieder drückte ich zu. Tränen erschienen in den Augen des Caraliv und er schüttelte sich in den Qualen. Die Kraft zum Schreien hatte er nicht mehr.
Für einen Moment schloss ich die Augen und hielt die Luft an, machte mir den Boden unter meinen Füßen bewusst. Das sichernde Gewicht meiner Schwerter auf dem Rücken. Das Gefühl des Dolches in meinem Stiefel. Etwas ruhiger öffnete ich die Augen wieder.
"Bitte", wisperte der Caraliv und ich hörte wieder auf zuzudrücken.
"Die verunstalteten Wappen", erinnerte Tyrak ihn.
"Ja. Wir." Der Gefangene kämpfte wieder mit der Ohnmacht. Seine Lider flatterten. Ich konnte nur zu gut nachempfinden, wie er sich gerade fühlte. Die schwarzen Punkte, die vor seinen Augen tanzten. Die Geräusche, die mal lauter, mal leiser erschienen.
Ganz leicht drückte ich die Klinge gegen seine Wange, nur so fest, dass ein kleiner Blutstropfen austrat. Ich wusste, dass es leichter war, bei Bewusstsein zu bleiben, wenn man sich auf einen minimalen, aber deutlichen Schmerz konzentrieren konnte.
Der Caraliv drehte den Kopf weg von meinem Dolch, doch ich hielt ihn fest und zwang ihn so, Tyrak anzusehen.
"Wieso? Was habt ihr davon?", fragte dieser und fixierte seinen Gefangenen mit forderndem Blick.
"Wir wollen die Zeichen in allen größeren Städten malen. In beiden Ländern. Die Regierung soll denken … Rote Schar mächtiger. Sich auf euch konzentrieren. Uns in Ruhe lassen."
Tyrak warf mir einen Blick zu. Ich hob eine Augenbraue. Das waren interessante Neuigkeiten. Mehr wollten wir gar nicht haben.
Wortlos stand Tyrak auf, nickte zu meinem Dolch und verließ den Raum. Nun trat ich vor den Stuhl und zögerte nicht, mit einer schnellen Bewegung die Klinge über die Kehle des Caraliv zu ziehen.
Klebriges, heißes Blut lief über meine Finger. Ich sah ihm in die Augen, bis das Licht darin erloschen, die Qualen starr in seinen Ausdruck gebrannt waren. Langsam richtete ich mich auf.
Als ich den Blick auf meine Finger richtete, leuchtete mir das Rot entgegen. Meine Hand verschwamm vor meinen Augen und ich ballte sie zur Faust, bohrte meine blutverklebten Fingernägel in den Handballen.
Ich brauchte frische Luft.
Der Schrei des Caraliv klang mir noch in den Ohren, als ich den Raum verließ, aus der Luke nach oben flog und gleich darauf durchs Fenster nach draußen. Kühle Abendluft schlug mir ins Gesicht und vertrieb den Gestank von Blut aus meiner Nase.
Ich schlug mehrmals mit den Flügeln, erhob mich weiter über die Stadt, bis ich außer Sichtweite von anderen Lazaliv durch die Luft glitt. Die Sonnen standen inzwischen so weit auseinander, dass es eigentlich zu kalt für eine solche Flughöhe war. Meine blutigen Finger wurden langsam taub. Kondenswasser aus den Wolken befeuchtete meine Haare und Kleidung.
Es war völlig still hier oben. Niemand sonst setzte sich dieser Kälte aus. Doch mein Herz raste. Ich wusste, wie der Caraliv sich gefühlt hatte. Welche Schmerzen ihn geplagt hatten. Die Gewissheit, nie wieder Tageslicht zu sehen.
Ich entspannte meine Rückenmuskulatur und ließ mich fallen, einhundert, zweihundert Meter in die Tiefe. Adrenalin schoss durch meine Adern, schärfte meine Sicht und gab mir Energie. Beruhigen konnte es mich nicht.
Mir wurde bewusst, dass mir Schweißperlen auf der Stirn standen, obwohl meine Wangen taub vor Kälte waren. Unwirsch schüttelte ich den Kopf, als ich auf meine Wohnung zusteuerte und mich zwischen den Häusern hindurch manövrierte.
Wie sehr meine Finger zitterten, wurde mir bewusst, als ich die Haustür aufschließen wollte. Ich brauchte einige Versuche, bis ich das Schloss traf und eintreten konnte.
Langsam nahm ich meine Waffen ab und setzte mich vor den Kamin. Bewusst konzentrierte ich mich auf meine Atmung, auf langsames Einatmen durch die Nase und kontrolliertes Ausatmen durch den Mund. Es funktionierte. Ich blieb ruhig.
Und dann fiel mein Blick auf meine Hände und auf das Blut, das langsam in einer rotbraunen Farbe darin eintrocknete.
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Burning Jade in a Sea of Amber
Fantasia// Band 2 // Knirschende Knochen, sickerndes Blut und qualvoller Tod - nichts als Alltag im Leben von Reyu, der seit dem Ende des Krieges in der lazalischen Kleinstadt Zintabur als Heiler im Hospital arbeitet. Kaum einer kennt ihn als mehr als einen...