11 • 2 | Reyu

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Meine Finger waren taub, meine Rückenmuskulatur schmerzte, weil sie das lange Fliegen nicht mehr gewohnt war, und mein Magen verlangte lautstark nach einem Abendessen, als ich schließlich in weiten Kreisen über der Stadt in den Sinkflug ging. Athkazr war schon vor einer halben Stunde untergegangen, nun stand Kaluur knapp über dem Horizont und tauchte die von zahlreichen Laternen erhellte Stadt in rotes Licht.

Ich landete vor den Toren der äußeren Palastmauer und nahm meine Kapuze ab. Mit der Faust schlug ich einige Male gegen das dunkle Holz und blickte dann durch die kleine Klappe in die missbilligenden Augen eines Wachsoldaten. "Name und Anliegen?"

"Reyu aus Zintabur, Sohn von Erean." In meiner Stimme schwang nichts von der Nervosität mit, die mein Herz zum Pochen und meine Handflächen zum Schwitzen brachte. "Die Könige erwarten mich."

Der Wachsoldat grunzte etwas ungläubig, schloss die Klappe aber wieder und schien das zu prüfen, denn nur wenig später öffnete er die kleine Tür an der Seite des großen Tores und winkte mich hindurch. Mit einer dreckigen Hand, von der ein Finger fehlte, deutete er in Richtung des Palastes. "Man wird Euch empfangen."

Unwillkürlich schloss ich die Hand um den Griff meines Dolches, als ich dem Palast entgegen schritt. Als ich ihn das letzte Mal verlassen hatte, hatte ich mir geschworen, nie wieder zurückzukehren. Zu viele unschöne Erinnerungen lagen hier.

Das Tor des Palastes öffnete sich langsam und mit einem leisen Knarzen. Mit einem Mal schienen mir die Schritte noch viel schwerer zu fallen. Ich hatte das Bedürfnis zu fliehen, meine Flügel auszubreiten und so lange in der Luft zu bleiben, bis ich weit, weit weg von hier war.

Durch das geöffnete Tor blickten mich die dunkelblauen Augen an, die mich noch immer in meinen Träumen besuchten. Ihr Gesichtsausdruck war unberührt und indifferent, mit keiner Regung zeigte sie das Wiedererkennen. Das Blau in ihrem linken Auge war ein wenig verblasst, die Pupille milchig. Die Folgen des Kampfes an der Hochzeit von Königin Kaira und König Azvar.

Mechanisch setzte ich einen Fuß vor den anderen, ballte die Faust um den Dolch an meiner Hüfte und erinnerte mich immer wieder daran, dass ich nicht wieder in die Verliese musste, dass sie keine Peitsche in der Hand hatte, dass ich kein Gefangener mehr war. Mit geradem Rücken und beherrschten Gesichtszügen blieb ich vor ihr stehen, neigte kaum merklich den Kopf. "Generalin Eljina."

Auch sie nickte mir einmal zu. In ihren Augen lag die unausweichliche Abneigung, doch ihre Professionalität und ihre Disziplin verhinderte, dass sie weitere Zeichen unserer Vergangenheit preisgab. "Legt Eure Waffen ab."

In ihrer Stimme lag der stählerne Unterton einer Befehlshaberin, doch ich musste mich einige Sekunden sammeln, bevor ich mich dazu bewegen konnte, meine Waffen abzulegen und sie in die Hände eines der beiden weiteren Soldaten zu geben. Ihr tiefblauer Blick blieb starr auf mich gerichtet, das rechte Auge intensiv wie eh und je, das linke leer und blind. Eine wulstige Narbe zog sich über die Seite ihres Gesichts, eine weitere Veränderung, seit ich sie das letzte Mal gesehen hatte. Nach der Schlacht war sie so verletzt gewesen, dass sie bei meiner Freilassung nicht hatte anwesend sein können. Unser letztes Treffen war also tatsächlich in den Verliesen gewesen.

Als ich die Schwerter von meinem Rücken nahm, schienen die alten Wunden darauf zu jucken. Ohne mir das anmerken zu lassen, legte ich auch den Dolch von meiner Hüfte und meinem Unterarm ab, hob dann die Arme etwas zur Seite, als der dritte Soldat mich nach weiteren Waffen absuchte. Mit einem verächtlichen Zungenschnalzen zog er zwei Wurfmesser aus der eingenähten Tasche meines Umhangs und gab sie seinem Kollegen.

Das Messer in meinem Stiefel fand er nicht. Das taten sie nie.

Der eine Soldat verschwand mit meinen Waffen, während die Generalin und der dritte Soldat mich in ihre Mitte nahmen und mich in Richtung Thronsaal führten. Keiner sprach. Das einzige Geräusch waren unsere Schritte, zweimal gleichmäßig, einmal unregelmäßig. Die Generalin humpelte stark, zog ihr linkes Bein hinterher.

In mir stieg das Bedürfnis auf, diese Schwäche auszunutzen. Mit einem gezielten Faustschlag auf die Schläfe den Soldaten ausschalten, sein Schwert entwenden und der Generalin so viel Schmerz zufügen, wie sie mir zugefügt hatte. Natürlich, sie war eine der besten Schwertkämpfer gegen die ich je angetreten war, doch ihre linke Seite war jetzt praktisch schutzlos. Ich könnte sie dafür bezahlen lassen, was sie mir angetan hatte.

Ich würde es nicht tun, das war mir klar. Auch sie hatte lediglich Befehle ausgeführt. Niemand wusste besser als ich, zu was man fähig sein konnte, wenn man Befehlen gehorchte.

Meine Beine wussten den Weg zum Thronsaal noch gut genug, sodass ich mich nicht darauf konzentrieren musste und erst wieder den Kopf hob, als ich die breite Doppeltür vor mir sah. Die Generalin klopfte an und wartete, bis die Türen von innen geöffnet wurden, bevor sie mich vor ihr hindurch schickte. Der zweite Soldat blieb draußen stehen.

Meine Schritte hallten auf dem weißen Marmorboden des Saals, als ich langsam vortrat. Mein Blick war starr nach vorne gerichtet, der Rücken aufrecht, die Schultern gestrafft. Ich fühlte mich ein wenig, als würde ich nach Hause kommen, als ich mich so den Königen näherte. Das hier hatte ich jahrelang gemacht. Das hier war mein Spezialgebiet. Das hier war das, was ich am besten konnte.

In der Mitte des Saals ging ich auf ein Knie, während ich hörte, wie Eljina schräg hinter mir Stellung bezog. Mit gesenktem Kopf erwies ich drei Personen vor mir meinen Respekt. "Ni Akumdr", sprach ich König Najik an und nahm gleichzeitig wahr, wie die Generalin hinter mir sich regte. Ich wusste, wieso. Es befanden sich drei Könige im Saal und ich grüßte nur den, dem nicht einmal dieser Palast gehörte - ein klarer Beweis meiner Loyalitäten.

"Erhebt euch."

Die Stimme des lazalischen Königs war der seines Vaters so ähnlich, dass mir ein kleiner Schauer über den Rücken lief, während ich der Anweisung folgte und das Bedürfnis hatte, meine Hand um den Griff einer Waffe zu schließen, als ich aufsah und den Königen entgegenblickte. In den zwei Sekunden, in denen niemand sprach, machten sich beide Parteien ein Bild der jeweiligen Gegenüber.

König Najik war der Einzige, der stand. Seine Körperhaltung zeugte von Wachsamkeit, Aufmerksamkeit und Disziplin. Er schien um mehrere Jahre gealtert zu sein, seit ich ihn das letzte Mal gesehen hatte - allerdings war ich zu diesem Zeitpunkt auch noch so geschwächt gewesen, dass ich kaum etwas mitbekommen hatte. Sein Blick war berechnend, seine Augenbrauen leicht zusammengekniffen, der Gesichtsausdruck beherrscht und undurchdringlich.

Anders sah es bei seiner Schwester aus. Sie saß auf einem Thron, die Hände lagen locker auf den Armlehnen, doch ihre Schultern waren gerade und ihre Gesichtszüge vermittelten eine Art kühle Eleganz, die allerdings teilweise von der Neugier überschattet wurde, mit der sie mich musterte. Unwillkürlich fragte ich mich, wie viel sie über mich und meine Vergangenheit wusste.

König Azvar thronte auf einem hohen, golden verzierten Stuhl mit gerader Lehne, an deren oberen Ende das Wappen der Caraliv eingraviert war. Die Augen des auf den Hinterbeinen stehenden Bären leuchteten mir als Diamanten entgegen, die genauso schwarz waren wie die Augen des Königs selbst. Azvar hatte eine Hand auf dem Griff seines Schwertes, zwar locker, doch bereit, es innerhalb eines Bruchteils einer Sekunde zu ziehen.

In seinen Augen brannte ein Feuer, ein kaltes, schwarzes Feuer, das er in keiner Regung sonst offenbarte. Die Flammen seines Blickes reckten sich nach mir, wollten mich verschlingen, wünschten mir nichts als den Tod.

Vermutlich reichte ein knappes Jahr nicht ganz aus, um mir zu verzeihen, dass ich beinahe seine Frau getötet hatte.

Burning Jade in a Sea of AmberWo Geschichten leben. Entdecke jetzt