04 • 2 | Reyu

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Das kannst du sowas von vergessen." Kopfschüttelnd trat Valia einen Schritt zurück.

"Komm schon. Heute ist perfektes Flugwetter. Du bist doch bestimmt noch nie geflogen."

"Nein, bin ich nicht. Und ich habe auch nicht das Bedürfnis, mein Leben in hundert Metern Höhe nichts als ein paar Federn anzuvertrauen", schnaubte sie.

Unwillkürlich grinste ich. "Du hast Höhenangst."

"Hab ich gar nicht", schnappte sie und funkelte mich an.

"Dann kannst du ja mit mir fliegen."

"Nein."

Ich lachte und griff nach ihrem Handgelenk. "Man muss seine Ängste überwinden. Vertrau mir."

"Pläne, die mit 'Vertrau mir' anfangen, gehen selten gut aus", murmelte sie und sah zweifelnd in den Himmel.

"Selten ist nicht nie. Jetzt komm, Giftzwerg." Ich stellte mich direkt hinter sie und legte einen Arm um ihre Taille. "Du kannst dir das gar nicht vorstellen. Den Wind im Gesicht, die Weite des Himmels um dich herum, die Sterne zum Greifen nahe über dir."

Sie brauchte einen Moment für ihre Antwort. Kaum merklich verlagerte sie ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen und auf einmal wurde mir ebenfalls bewusst, dass wir uns noch nie so nahe gewesen waren. Ihren Atem spürte ich flach und schnell unter meinem Arm und eine Gänsehaut machte sich auf ihrem Nacken breit.

"Das ist deine einmalige Gelegenheit, mich bequem umzubringen", murrte sie dann und ich grinste.

"Keine Sorge. Das wäre viel zu viel Sauerei", versicherte ich ihr und ohne ihr noch Zeit für Widerspruch zu lassen, schloss ich auch meinen zweiten Arm um ihren Oberkörper und schlug mehrmals kräftig mit den Flügeln.

Sie gab einen erschrockenen Laut von sich und klammerte sich mit dem unverletzten Arm an meinem fest, während ich uns in die Luft brachte und immer höher über die Häuserdächer stieg.

"Reyu!", fauchte sie und kratzte mit ihren Fingernägeln über meinen Unterarm. "Lass mich sofort wieder runter!"

"Wenn du möchtest." Ich schlug noch ein oder zweimal mit den Schwingen, dann legte ich die Flügel an und ging so in einen Sturzflug. Der Wind wehte mir die Locken Valias ins Gesicht und pfiff mir so laut um die Ohren, dass er beinahe den Schrei übertönte, der ihr bei unserem rasanten Weg nach unten entwich.

Zwei Dutzend Meter über den Häuser breitete ich meine Schwingen wieder aus und fing unseren Sturz ab, segelte dann in ruhigem Tempo über die Stadt und nahm langsam wieder an Höhe zu.

Valia brauchte einige Sekunden, bis sie sich wieder fing, dann begann sie ohne Punkt und Komma zu schimpfen und sich aufzuregen. Ich hörte nur mit halbem Ohr zu, während ich mich nun wieder stetig nach oben schraubte.

Als wir in kältere Luftschichten aufstiegen und die Wolken kleine Wassertröpfchen auf unserer Kleidung und Haut absetzten, wandelte sich ihr Schimpfen langsam wieder in Forderungen, sie wieder auf den Boden zu bringen und mich dann auf den Grund des Meeres zu verziehen.

"Sei still und mach die Augen auf", unterbrach ich sie und mit weiterem Gezeter hob sie den Kopf von meiner Brust und öffnete die bis jetzt zusammengekniffenen Augen.

Wir hatten uns über die Wolkendecke erhoben. Kaluur stand flach darüber und schickte uns seine roten Strahlen entgegen, erleuchtete die kleinen Watteflocken um uns herum und war doch dunkel genug, um die Sterne zum Vorschein kommen zu lassen.

Mit einem Lächeln drehte ich mich einmal um, sodass Valia auf meiner Brust lag, und beobachtete, wie sie sich ehrfürchtig umschaute.

"Gib zu, dass das wunderschön ist", murmelte ich leise.

"Ist schon in Ordnung, ja", entgegnete sie. "Das ist hier trotzdem Entführung."

"Ja ja." Ich lachte und ließ mich langsam mit dem Oberkörper voraus nach unten fallen, sodass ich mich dann drehen konnte und meine Flügel wieder oben waren. "Du hast mir meinen Unterarm zerkratzt."

"Hätte ja sein können, dass du mich fallen lässt", murmelte sie sichtlich beleidigt.

"Du meinst so?" Für den Bruchteil einer Sekunde lockerte ich meinen Griff um ihre Taille und ließ sie nach unten sacken. Sie gab einen panischen Laut von sich, doch da hatte ich sie schon wieder fest an meinen Oberkörper gedrückt.

"Du bist so ein unfassbar dummer Vogel", murmelte sie, während ich nun in gemächlichem Tempo abwärts segelte und mich in einem weiten Bogen über die Stadt meiner Wohnung näherte.

Auf der Straße vor der Haustür setzte ich sie sachte ab und schloss dann auf. Sie folgte mir nach drinnen und sah mich kopfschüttelnd an. "Du hast Glück, dass ich noch lebe. Das hätte sonst sicher Ärger mit Zath gegeben", behauptete sie, was mich zum Lachen brachte.

Als ich meine Schwerter vom Rücken nahm, erinnerte mich ein scharfer Schmerz wieder an meine Wunden. Mit Mühe verhinderte ich eine Gesichtsregung, sog nur minimal tiefer die Luft ein.

"Dein Rücken", sagte Valia sofort und innerlich fluchte ich. War ja klar, dass sie das wieder bemerkte.

"Dem geht's super", erwiderte ich und begegnete ihrem Blick. "Du musst nicht immer wieder damit anfangen."

"Dem geht es nicht super, nachdem Vicar und Neciel dich gegen die Wand gestoßen haben. Lass mich die Wunden wenigstens mal ansehen.”

“Nein.”

“Sturkopf.”

“Giftzwerg.”

Ich wandte mich von ihr ab und zog mir die Stiefel von den Füßen, spürte jedoch bei jeder Bewegung die Schmerzen in meinem Rücken, was dazu führte, dass ich mich mit ziemlicher Vorsicht bewegte.

“Das reicht, Reyu”, sagte Valia mit entschiedener Stimme. “Entweder du lässt dir jetzt helfen oder ich besorge mir von irgendwoher eine Peitsche und haue noch ein paar Mal drauf.”

Abrupt hielt ich inne, drehte mich dann langsam zu ihr um und begegnete ihrem vorwurfsvollen Blick. Ich hatte kein Bedürfnis mehr, auf die Provokation einzugehen. “Darüber macht man keine Witze.” Automatisch ging ich in Abwehrhaltung und verschloss die Gesichtszüge, um ihr nicht zu zeigen, wie die Erinnerung vor meinem inneren Auge herumlungerte. Geballte Fäuste verbargen das Zittern in meinen Händen.

“Tut mir leid”, flüsterte sie leise und schien vor meinem kalten Blick zurückzuweichen. “Ich habe nicht darüber nachgedacht.”

“Ich weiß. Ist auch die leichtere Variante, wenn man die Erinnerung nicht auf dem Rücken trägt.”

Zu meiner Überraschung trat sie wieder einen kleinen Schritt auf mich zu und griff ganz vorsichtig nach meiner Hand, löste die Faust und lockerte die Finger. “Ich kann sie dir nicht abnehmen. Aber du kannst sie teilen. Manchmal hilft reden wirklich. Auch wenn du mir das nicht glauben wirst.”

Wortlos zog ich meine Hand aus ihrem Griff und ging der Berührung aus dem Weg.

Sie seufzte. “Dann lass mich wenigstens die äußerlichen Wunden versorgen. Bitte.”
Zögerlich trat ich einen Schritt zurück. Sie wusste ja sowieso schon, wie die Wunden aussahen. Und ich würde viel besser schlafen, wenn das Brennen aufhören würde.

Langsam nickte ich und begann mein Hemd aufzuknöpfen.

Burning Jade in a Sea of AmberWo Geschichten leben. Entdecke jetzt