Bis zum Ende der Schicht war ich so abgelenkt und so wenig bei der Sache, dass Zath mir dann verordnete früher Schluss zu machen und in dieser Nacht mehr zu schlafen, damit ich mich wieder ordentlich konzentrieren konnte. Ich fing nicht an zu diskutieren, sondern nickte folgsam und machte mich auf den Weg zu Reyu nach Hause.
Eigentlich hätte ich es mir denken können. Er war verbittert, hatte irgendetwas erlebt, was ich vielleicht gar nicht wissen wollte, und hasste die Caraliv bis aufs Blut. Dass er erstaunliche Reflexe hatte und rund um die Uhr bewaffnet war, dass er sogar einen Dolch in unmittelbarer Reichweite von seinem Schlafplatz hielt, das hatte ich ja auch schon festgestellt.
Trotzdem hatte ich nicht damit gerechnet, dass er ausgerechnet in der Roten Schar war, der Gruppe, die für meine Obdachlosigkeit verantwortlich war. Zwar hatte er behauptet, dass er nicht dafür gewesen war, allerdings wusste ich auch nicht mehr, was ich ihm überhaupt glauben sollte.
Ich hatte nämlich mal wieder darüber nachgedacht, woher er seine Wunden am Rücken haben könnte. Eine Auspeitschung mit so vielen Hieben - mir viel keine andere Erklärung als Verrat an der Krone ein. Mir war nämlich nun in den Tagen nach der Feier auch erstmals wieder bewusst geworden, dass man bei Lazaliv allein durch die Farbe des Blutes schon eine ganze Menge ausmachen konnte. Und Reyus Blut war nicht gerade silbern, wenn auch nicht auffällig dunkel. Die graue Farbe sprach jedoch dafür, dass er seine Hände nicht in Unschuld wusch. Meine Theorie war, dass er einfach nicht zugeben wollte, was er verbrochen hatte, und dass er sich mit dieser Ausrede vor weiteren Fragen drücken wollte.
Oder hatten seine Wunden etwas damit zu tun, dass er Rebell war? Wer konnte schon wissen, was eine lazalische Rebellengruppe für Methoden hatte. Wobei er ja behauptet hatte, Tyrak sei sein Freund. Und wenn er der Anführer war, würde er kaum seinen Stellvertreter und Unterstützer so behandeln.
Ich hielt inne. Bis jetzt war ich gedankenverloren durch die Straßen gewandert, ohne auf meine Umgebung zu achten. Nun stach mir grell gelbe Farbe ins Auge und als ich mich umwandte, sah ich eines der Zeichen, von denen die beiden heute gesprochen hatten.
Zögerlich trat ich näher und verschob das Grübeln über Reyu auf später. Die Leute liefen und flogen an der Straßenmalerei vorbei, ohne mehr als einen kurzen Blick darauf zu werfen und dann hastig daran vorbeizuziehen. Niemand wollte irgendwie damit in Verbindung gebracht werden.
An der Hauswand vor mir befand sich in intensivem Gelb das Wappen der Caraliv. Ein Bär stand auf den Hinterbeinen zum Betrachter gerichtet, mit äußerster Präzision gezeichnet und, wie ich zugeben musste, ziemlich gut getroffen. Zwei nach unten zeigende Federn lagen zu seinen Füßen, Symbol für die Niederlage der Lazaliv. Seit einem Monat ungefähr hatte man dieses Detail jedoch eigentlich vom Wappen entfernt. Der Bär trug eine Krone, normalerweise eine symbolhafte Darstellung der caralischen Könige, doch hier vor mir war sie von einem Schwert zerteilt, das senkrecht im Kopf des Bären steckte.
Eine rüde, jedoch sehr deutliche Botschaft.
Eigentlich wollte ich mich nicht allzu lange damit aufhalten, doch irgendetwas ließ mich noch zögern. Das Bild des regulären Wappens stieg vor meinem inneren Auge auf. Ich hatte es erst letztens gesehen, doch wo?Es war aufgestickt auf meinem Reiseumhang, aber ich wusste, dass mein Unterbewusstsein das kaum meinen konnte. Ohne auf meine Umgebung zu achten, setzte ich meinen Weg fort, in Gedanken beim Wappen meines Volkes.
Wo hatte ich es das letzte Mal gesehen? Es war dunkel gewesen, das gab meine Erinnerung her, als ich weiter in meinem Gedächtnis kramte. Natürlich war ich öfter bei Dunkelheit unterwegs, doch wo könnte da das caralische Wappen aufgetaucht sein?
Ruckartig blieb ich stehen, so plötzlich, dass zwei Leute in mich hinein liefen und sich empört murmelnd wieder entfernten. Ich achtete nicht auf sie. Natürlich hatte ich den Bären mit der Krone letztens erst gesehen. Ich hatte es nur nicht als Wappen erkannt. Sätze flogen durch meine Erinnerung, die ich auf einmal viel besser einordnen konnte.
Du hast nur Pech, mich so kennenzulernen. Früher war ich nicht so.
Ich gebe zu wenig von mir preis, als dass mich jemand kennenlernen könnte.
Mein Stolz ist das Einzige, was ich noch habe.
Es war kein seltsames Tattoo, das auf Reyus Fußsohle prangte. Es war das Wappen der Caraliv und damit auch kein Tattoo, sondern etwas völlig anderes. Etwas, das ich selbst schon jemandem zugefügt hatte. Beinahe wurde mir wieder schlecht, als mir der Geruch wieder in die Nase stieg, der fest mit dieser Erinnerung verknüpft war.
Caraliv, die sich zu Soldaten ausbilden ließen, arbeiteten alle für eine Weile im Kerker. Und das nicht nur in den Zellen der caralischen Kleinverbrecher - jeder musste einmal für ein paar Tage in den Trakt mit den Kriegsgefangenen. Jeder war einmal bei einer Befragung, bei einem Verhör dabei.Und jeder drückte einmal das glühende Eisen mit dem Wappen der Caraliv auf die Fußsohle des Gefangenen, seinen Schrei in den Ohren und den beißenden Geruch von brennendem Fleisch in der Nase.
Reyu hatte kein Tattoo, Reyu hatte eine Brandnarbe. Und das hieß, dass er tatsächlich nicht für ein Verbrechen ausgepeitscht wurde.
Er wurde gefoltert.
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Burning Jade in a Sea of Amber
Fantasía// Band 2 // Knirschende Knochen, sickerndes Blut und qualvoller Tod - nichts als Alltag im Leben von Reyu, der seit dem Ende des Krieges in der lazalischen Kleinstadt Zintabur als Heiler im Hospital arbeitet. Kaum einer kennt ihn als mehr als einen...