10 • 1 | Valia

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Ashan hatte mich geküsst. Ashan hatte mich geküsst. Ashan hatte mich geküsst.

Wie ein Mantra pochte dieser Gedanke in den nächsten Tagen in meinem Kopf und ließ mich meine Konzentration auf kaum etwas anderes richten. Ich wusste, dass ich reagierte wie eine Jugendliche nach ihrem ersten Kuss, doch ich konnte nichts dagegen tun, außer mich bemühen, mir nichts anmerken zu lassen.

Natürlich erzählte ich Anaya davon, doch die konnte mir genauso wenig bei meinem Gefühlschaos helfen wie ich mir selbst.

Ashan war mir wichtig. Das war eine stehende Tatsache. Ich freute mich, dass er mich weiterhin jeden Tag vom Hospital abholte, dass er mir seine Jacke gegen die Kälte gab und dass er mir kleine Geschenke machte, die zu nichts anderem gut waren, als seine Liebe für mich zu zeigen. Niemals würde ich zugeben, dass es mir gefiel, wie er mich umwarb, doch vor mir selbst konnte ich das nicht abstreiten - es war schön, gewollt zu werden.

Es gab allerdings auch etwas, das mich jedes Mal kurz zögern ließ, wenn ich mit Ashan zusammen war. Besser gesagt, jemanden.
Noch hatte ich Reyu nicht erzählt, dass Ashan und ich uns geküsst hatten und nun irgendwie inoffiziell wieder zusammen waren und ich ging ihm bewusst aus dem Weg, um eine Konfrontation zu vermeiden. Er war ja nicht dumm - vermutlich war ihm klar, dass Ashan und ich nicht nur Bekannte waren. Doch ich konnte mir nicht vorstellen, dass es nicht seltsam zwischen uns sein würde.

Meistens war ich sowieso den ganzen Tag unterwegs, sodass ich nicht viel Zeit in seiner Wohnung verbrachte, und ich hatte auch den Eindruck, dass er kaum zuhause war. Natürlich ließ er sich die Müdigkeit nicht offen anmerken, doch ich kannte ihn inzwischen gut genug, um ihm den Schlafmangel anzusehen. Das gelegentliche Zusammenkneifen der Augen, um sich besser konzentrieren zu können, das Berühren der Schläfen bei lauten Geräuschen, als hätte er Kopfschmerzen.

Nicht, dass ich ihn je beobachten würde.

Allerdings war ich nicht die Einzige, die den anderen selten aus den Augen ließ. Oftmals bemerkte ich ihn aus dem Augenwinkel, wie er mir zusah, wie er einige Schritte auf mich zu machte, als wollte er mit mir sprechen. Doch ich schaffte es, ihm aus dem Weg zu gehen und dem unangenehmen Gespräch zu entgehen.

Mit einer Gänsehaut auf den Armen erhob ich mich nun von meinem Bett und trat leise auf die Schlafzimmertür zu. Draußen heulte der Wind um das Gebäude und brachte die ersten Schneeflocken des Jahres mit sich. Obwohl der Kamin im Wohnzimmer nun befeuert wurde, war es im Schlafzimmer so kalt, dass ich mir eine zusätzliche Wolldecke holen wollte.

Inzwischen geübt von meinen nächtlichen Ausflügen wusste ich genau, wie weit ich die Tür öffnen konnte, bevor sie ein leises Knarzen von sich geben würde, das aber sicherlich genug wäre, um Reyu aufzuwecken. Doch sobald ich einen Fuß aus dem Schlafzimmer setzte, wusste ich, dass etwas nicht stimmte.

Die vertrauten, ruhigen Atemzüge des schlafenden Lazaliv war heute ersetzt durch schnelle, flache, begleitet von einem unverständlichen, panischen Murmeln. Vorsichtig trat ich einen Schritt näher. Unruhig wälzte Reyu sich auf dem Diwan hin und her, seine Decke war zu Boden gefallen. Sein Ausdruck war verzerrt, nicht vor Wut, sondern vor blanker Angst.

“Reyu”, sagte ich leise, etwas, das ihn sonst senkrecht im Bett stehen lassen würde, das jetzt jedoch keine Wirkung zeigte. “Reyu!”, versuchte ich es nochmal, diesmal kräftiger. Gleichzeitig wurde jedoch auch er lauter, weiterhin so, dass man kaum etwas verstehen konnte. Mir des Risikos vollkommen bewusst, näherte ich mich ihm weiter und fasste ihn schließlich an der Schulter, rief nochmal seinen Namen.

Diesmal mangelte es nicht an Wirkung. Mit voller Kraft schlug er meine Hand beiseite und schaffte es irgendwie gleichzeitig in einer einzigen Bewegung aufzustehen, während ich hastig wieder zwei Schritte zurücktrat.

“Reyu, ich bin es”, sagte ich ruhig und beobachtete, wie er langsam begann die äußeren Einflüsse auch wieder zu verarbeiten. “Alles ist gut. Du hattest einen Albtraum.”

Woher auch immer er plötzlich den Dolch in seiner Hand hatte, seine Finger zitterten so stark, dass ich Angst hatte, er würde sich die Klinge gleich auf den Fuß fallen lassen. Keuchend fixierte er mich mit seinem Blick. Schweiß bedeckte seinen Körper, der vom Schein der Glut im Kamin einseitig rot beleuchtet wurde.

Beschwichtigend hob ich die Hände, näherte mich ihm ganz langsam und nahm ihm so vorsichtig wie nur irgendwie möglich den Dolch aus der Hand. Seine Finger waren eiskalt, obwohl es hier vor dem Kamin eigentlich angenehm warm war.

Mit der Klinge schien ihn auch jegliche Abwehr zu verlassen. Er sackte kraftlos in sich zusammen, stützte sich auf die Lehne und ließ sich langsam zu Boden gleiten. Mit dem Diwan im Rücken saß er nun da und ich sah ihm an, wie er sich bemühte seine Atmung unter Kontrolle zu bekommen.

Wortlos legte ich ihm seine Decke um die Schultern, brachte den Dolch außerhalb seiner Reichweite in Sicherheit und setzte mich dann mit etwas Abstand neben ihn. Es dauerte mehrere Minuten, bis sein Atem wieder leiser war als der Sturm draußen. Erst dann traute ich mich zu sprechen.

“Möchtest du darüber reden?”

Stille. Unruhig rutschte ich auf meinem Platz hin und her, als mir auffiel, dass es das erste Mal seit einer Woche war, dass wir uns zu zweit in einem Raum befanden. Allein. Mit nur etwa dreißig Zentimetern Abstand.
Der Gedanke an Ashan brandete in mein Bewusstsein, doch ich schob ihn energisch beiseite und konzentrierte mich auf Reyu. Im Moment war das wichtiger.

Ich dachte wieder daran, was er im Schlaf genuschelt hatte, was davon ich verstanden hatte. Zögerlich warf ich ihm einen Blick von der Seite zu. Er sah starr nach vorne in den Kamin, der Ausdruck abwesend und gedankenverloren. Seine Augen wirkten stumpf, beinahe leer, ein Anblick, der mich erschreckte.

“Reyu?”, fragte ich leise, doch er zeigte keine Reaktion. Meine Frage stellte ich trotzdem. “Wer ist Tray?”

Ruckartig drehte er den Kopf zu mir, der Blick nun mit einem Mal wieder scharf und klar. Seine Hände ballten sich zu Fäusten und sein Gesicht verzog sich zu einer grimmigen Maske. “Woher kennst du diesen Namen?”

“Du … hast geredet, kurz bevor ich dich aufgeweckt habe”, sagte ich etwas kleinlaut. So wenig wie ich davor bekommen hatte, so viel Reaktion hatte ich nun mit der bloßen Erwähnung eines Namens in ihm hervorgerufen. Neugier brodelte in mir auf, doch ich kämpfte sie nieder, wollte Reyu in diesem Moment nicht bedrängen.

“Wenn du diesen Namen gegenüber irgendjemandem erwähnst, egal wem, reiße ich dir den Kopf ab.”

Die Aussage klang nicht einmal wie eine Drohung. Sie klang wie eine bloße Feststellung, eine Tatsache, die man nicht anzweifeln musste.

“In Ordnung”, erwiderte ich leise.

Für einige Minuten war es still. Zu meiner Überraschung war es Reyu, der als Erster wieder das Wort ergriff. “Habe ich dich aufgeweckt?”

“Nein. Ich wollte mir noch eine Decke holen”, erwiderte ich. “Es ist wirklich Winter geworden.”

“Das ist es”, bestätigte Reyu und tat dann etwas, was ich im Leben nicht von ihm erwartet hätte - er griff nach der Decke, die ich ihm nach dem Alptraum gegeben hatte, und legte sie mir um die Schultern.

Überrascht sah ich zu ihm und begegnete seinem Blick für einen kurzen Moment, bevor er sich wieder abwandte. Schatten lagen unter seinen Augen und als er wieder ins Feuer sah, nahm sein Gesicht wieder einen abwesenden, leeren Ausdruck an.

Er wollte offensichtlich nicht mit mir reden. Wir hatten auch schon länger nicht mehr offen miteinander gesprochen. Und ich wurde das Gefühl nicht los, dass unsere Distanziertheit in letzter Zeit nicht besonders gut für seine psychische Gesundheit gewesen war.

Burning Jade in a Sea of AmberWo Geschichten leben. Entdecke jetzt