15 • 4 | Reyu

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Unter anderen Umständen hätte ich die absolute Fassungslosigkeit in Valias Gesicht lustig gefunden. Nun ließ sie mich lediglich seufzend den Blick abwenden. Ich wartete nicht auf weitere Fragen von ihrer Seite, sondern begann einfach zu erklären.

“Er wurde etwa ein Jahr nach der Hochzeit von Rajana und mir geboren. Er war nicht geplant - natürlich nicht. Ich war ja kaum zuhause und eine alleinerziehende Mutter hat es bei den Lazaliv nicht leicht. Sie wollte trotzdem immer Kinder, auch wenn es für sie schwer sein würde, doch ich konnte mich selbst nicht als Vater sehen. Wie sollte ich ein Kind aufziehen, wenn ich moralisch alles Negative verkörperte?”

Ich traute mich nicht, Valia anzusehen, während ich sprach. Mein Blick war weiter auf einen unbestimmten Punkt an der Wand gerichtet. Vor meinem inneren Auge liefen die Erinnerungen ab.

“Während sie schwanger war, habe ich mich bemüht, öfter da zu sein und ihr zu helfen. Doch ich hatte Angst. Sie hat sich so gefreut - ich wollte sie nicht enttäuschen. Es war eine komplett problemlose Schwangerschaft, eine völlig routinemäßige Geburt. Und dann war er da … Tray.”

Es schmerzte, darüber zu sprechen. Es schmerzte, auch nur daran zu denken. Mit einem zittrigen Atemzug hielt ich kurz inne und schob die Wehmut energisch aus meiner Stimme.

“Ich dachte nicht, dass ich ihn lieben würde. Ich dachte nicht, dass ich fähig wäre, überhaupt ein Kind in mein Herz zu schließen. Ich weiß bis heute nicht, wie, aber in der Sekunde, in der Rajana ihn mir in den Arm gegeben hat, war er mein Ein und Alles.”

Valias Hand suchte vorsichtig wieder nach meiner und ich war dankbar für dieses Zeichen, dass sie mir gerade nicht böse war.

“Vier Jahre habe ich ihn aufwachsen sehen. Immer wieder mit Unterbrechung, aber ich war oft heimlich zuhause, habe alles dafür riskiert, ihm ab und zu einen Besuch abzustatten. Natürlich war Rajana immer seine Nummer Eins. Dafür war ich zu selten da, war zu unbeholfen mit einem Kind. Aber es gab keinen schöneren Anblick, als den beiden zuzusehen, wenn sie etwas gemeinsam machten.”

Für einen Moment glaubte ich Trays helles Kinderlachen zu hören, seine begeisterte Stimme, wenn er mir zeigte, was für Kunststücke er schon in der Luft konnte. Es war, als würde man mir einen Dolch ins Herz rammen.

“Dann wurde ich nach Samalfar geschickt, um Kaira zu töten. Natürlich konnte ich nicht regelmäßig ausbrechen und nach Rokthan fliegen, also habe ich ihn eine ganze Weile nicht gesehen. Ich habe seinen fünften Geburtstag verpasst. Wir konnten nicht einmal Briefe schreiben, weil das ein zu großes Risiko darstellte. Ich hatte keinerlei Kontakt zu ihm. Bis ich gefangengenommen und gefoltert wurde. Und als ich wieder freikam, war Rajana tot.”

Wieder machte ich eine kleine Pause, hatte kurz die Hoffnung, dass Valia mir sagen würde, ich musste nicht zu Ende erzählen, doch von ihr kam lediglich Stille. Was nur verständlich war.

“Versprich mir, dass du mich nicht verachtest, wenn ich dir den Rest erzähle”, bat ich leise.

“Natürlich. So schlimm kann es nicht sein”, sagte sie, worauf ich nur den Kopf schüttelte.

“Du weißt noch nicht, was ich getan habe.”

“Du bist der stärkste Sturkopf, den ich kenne. Und diese Meinung kann von nichts geändert werden.”

"Sag nicht, dass ich stark bin", bat ich und sammelte mich kurz für den letzten Teil der Geschichte. Dann fuhr ich fort.

“Sie haben Rajana getötet, wollten aber kein Kind umbringen. Er wurde in ein Waisenhaus in Rokthan gebracht. Er musste mit ansehen, wie seine Mutter getötet wird und hat erzählt bekommen, dass sein Vater ebenfalls getötet wurde. Mit fünf Jahren”, flüsterte ich leise und stockte kurz.

“Hast du … Kontakt zu ihm?”, traute sich Valia zu fragen und schien sehr vorsichtig zu sein.

Mit plötzlich trockenem Mund schüttelte ich den Kopf. “Ich … habe es nie übers Herz gebracht, ihm unter die Augen zu treten. Ich bin schuld daran, dass sie seine Mama getötet haben. Dass er ein Waise ist. Wie könnte ich jemals wieder zu ihm gehen? Vor allem jetzt, nachdem ich ihn verlassen habe? Er hasst mich. Und er ist besser dran ohne mich.”

“Oh, Reyu”, hauchte Valia und drückte meine Hand, leistete mir Beistand. “Er hasst dich doch nicht. Er würde sicher alles dafür geben, ein Elternteil wieder zu bekommen. Er denkt, du bist tot.”

“Und das ist besser so. Ich schicke dem Waisenhaus monatlich Geld. Natürlich anonym. Er hat dort doch ein so viel besseres Leben als ich ihm jemals ermöglichen könnte.”

“Ein Kind ohne Eltern hat kein besseres Leben als ein liebender Vater es ihm ermöglichen könnte”, sagte Valia leise. “Hast du nie überlegt, ob du zurückgehen sollst? Vermisst du ihn nicht?”

Ich schloss die Augen. “Ich vermisse ihn mehr, als ich es mir je hätte vorstellen können.”

“Dann mach etwas damit. Geh zu ihm zurück. Ich garantiere dir, wenn er dich sieht, wird er keine Sekunde daran denken, dass du Schuld am Tod seiner Mutter bist.”

Ich schwieg, wusste nicht mehr, was ich darüber denken sollte. Hatte sie doch Recht? Verletzte ich ihn noch mehr, wenn ich ihn allein ließ?

“Wenn das alles hier vorbei ist, fliegen wir gemeinsam zurück nach Rokthan und bereiten einem kleinen Jungen die größte Freude, die es für ihn geben kann. In Ordnung?”

Ich hatte genickt, bevor ich mich davon abhalten konnte. Die Angst, er würde mich abweisen, saß tief in meinem Herzen. Doch noch tiefer saß die Liebe für meinen Sohn und die Sehnsucht, ihn wieder auf den Arm zu nehmen, die letzte Erinnerung an Rajana, die ich hatte.

“In Ordnung”, sagte ich leise.

Burning Jade in a Sea of AmberWo Geschichten leben. Entdecke jetzt