Ich hatte schon fast auf das Gefühl gewartet, das mich nun überkam. Mein Blick verschwamm, schwarze Punkte tanzten vor meinen Augen und auf einmal schien meine Lunge nicht mehr zu arbeiten. Es kostete mich unglaublich viel Kraft, einzuatmen, auszuatmen, mich nicht komplett zu verlieren.
Vor meinen Augen änderte das Blut die Farbe, nahm das Grau an, das mir selbst in Strömen aus dem Rücken gelaufen war. Ich war wieder zurück in der Zelle, meine Handgelenke vor mir an die Wand gefesselt. Ich hörte das Schnalzen der Peitsche, fühlte den brennenden Schmerz auf meinem Rücken, spürte das heiße Blut, das aus der Wunde austrat.
Keuchend atmete ich ein, bis meine Lunge blockierte, stieß die Luft dann ruckartig wieder aus. Ich konnte nicht genug atmen. Es erreichte nicht genug Luft meine Lungen. Meine Atmung wurde panischer, schneller, stockender.
Das Gefühl der Hilflosigkeit überkam mich, das Wissen, dass ich rein gar nichts an meiner Situation verändern konnte. Mein Herz schien sich zu verkrampfen, meine ganze Brust fühlte sich eng an und ich war mir sicher, dass ich diesmal ersticken würde. Ich würde bewusstlos werden und dann wieder in der Zelle aufwachen. Wieder die Peitsche auf meinem Rücken spüren. Wieder das Messer auf meiner Haut.
"Reyu?"
Eine Stimme, die aus weiter Ferne zu mir drang. Nein, das war falsch. Sie sollte wegbleiben. Sie war in Gefahr.
Eine Berührung. An meiner Hand. Vorsichtig. Sachte. Ruckartig zog ich meine Finger weg und stand auf, versuchte zu atmen. Der Raum drehte sich um mich herum. Ich bekam keine Luft.
Schmerz machte sich irgendwo an meiner Hüfte bemerkbar. Meine Hände stützten sich irgendwo. Seit wann war ich wieder auf dem Boden?
Natürlich. Sie würden mich gleich treten. Zusammenschlagen. Ich sah die dunklen Stiefel vor mir. Gleich würden sie meine Rippen treffen. Meinen Bauch. Meinen Rücken. Immer und immer wieder. Bis jeder Millimeter meines Körpers in Flammen stand, bis ich nichts mehr tun konnte, außer zusammengekrümmt am Boden zu liegen und zu wimmern.
"Reyu."
Die Stimme passte hier nicht rein. Sie klang besorgt. Um mich war niemand besorgt. Mich wollte man nur leiden sehen.
Zitternd versuchte ich irgendwie wegzukommen, wollte fliehen, doch ich bekam keine Luft. Ich würde ersticken. Ich konnte mich nicht mehr bewegen. Die Hand aus dem Augenwinkel sah ich kommen, erwartete den harten Aufprall, den brennenden Schmerz auf der Wange, den Geschmack von Blut im Mund.
Der Aufprall war nicht hart. Es war nicht einmal ein Aufprall. Es war eine Berührung. Eine sanfte, vorsichtige Berührung.
Angst schoss durch meine Glieder. Meine Atmung wurde noch schneller, doch noch weniger Luft erreichte meine Lungen. Ich schmeckte Salz. Schweiß oder Tränen, ich wusste es nicht. Ich wusste nur, dass sie sich eine neue Taktik hatten einfallen lassen. Irgendeine neue, grausame Methode, wie sie mich dazu bringen würden, mit ihnen zu kooperieren.
Ein Gesicht erschien vor meinem. Blinzelnd versuchte ich meinen Blick zu fokussieren, den verschwommenen Kreis vor mir einer Person zuzuordnen. War es sie? Sicherlich. Gleich würde ich die dunklen, tiefblauen Augen erkennen und dann würde sie mich wieder an die Wand fesseln, mit dem Rücken ihr zugewandt, und ich würde die Peitsche hinter mir durch die Luft zischen hören.
Meine Finger wurden taub. Die Panik war ein Parasit, der sich in meiner Brust eingenistet hatte und mir schon die Qualen ankündigte. Ich konnte nicht mehr. Ich konnte nicht noch mehr Schmerz ertragen, nicht noch länger diese Hilflosigkeit spüren. Vielleicht würde ich diesmal zu viel Blut verlieren. Vielleicht würde sie diesmal ihr Messer dazu verwenden, mir die Kehle durchzuschneiden. Vielleicht wäre sie diesmal gnädig.
Ich schnappte nach Luft. Nein. Ich wollte nicht sterben. Ich konnte nicht sterben. Tray. Tray. Der Name hatte eine Bedeutung. In meiner Panik vergaß ich, welche. Doch ich konnte nicht sterben.
Schon wieder die Berührung an meiner Wange. Gleichzeitig die Erkenntnis, dass jemand mit mir sprach. Bestimmt war sie es. Eine Drohung. Oder eine Frage.
Nein. Etwas passte nicht. Es waren keine dunkelblauen, es waren grüne Augen, die einige Zentimeter vor meinem Gesicht schwebten. Intensiv grüne Iriden, glänzend wie ein polierter Edelstein.
"Reyu", vernahm ich die Stimme durch den dichten Nebel, der meinen Kopf füllte und alles Rationale erstickte. "Schau mich an."
Ich blinzelte wieder, versuchte scharf zu sehen.
"Hör auf meine Stimme. Leg deine Hand hier hin."
Einfache Befehle. Das konnte ich. Befehle ausführen.
Warme Finger hatten meine schwitzige, eiskalte Hand umschlossen und hoben sie an. Ich spürte Haut unter meinen zitternden Fingern, weiche, makellose Haut.
"Achte auf meinen Atem. Ich möchte, dass du zwei Atemzüge in meinem Tempo machst. Nur zwei. Das schaffst du."
Ohne darüber nachzudenken gehorchte ich. Die Haut unter meinen Fingern hob sich langsam und ich versuchte mit diesem Rhythmus einzuatmen. Ich konnte nicht. Meine Lunge nahm keine weitere Luft mehr auf. Ich würde ersticken.Panisch stieß ich den Atem wieder aus und sog neue Luft ein, noch immer nicht genug. Meine Atmung wurde wieder schneller, flacher. Punkte tanzten vor meinen Augen.
"Das ist nicht schlimm, Reyu, nicht schlimm. Hör einfach auf meine Stimme. Ich weiß, du hast Angst. Aber du bist sicher. Alles wird wieder gut. Du bist hier sicher. Niemand tut dir etwas an." Die warme Hand griff wieder nach meinen Fingern und umschloss sie, drückte sie sachte. "Niemand will dir etwas Böses. Du bist hier sicher. Alles wird gut. Konzentrier dich nur auf mich, Reyu. Auf mich."
Wieder blinzelte ich und langsam wurde Valias Gesicht klarer. Ich konnte ihre braune Lockenmähne ausmachen, ihr spitzes Kinn, ihre jadegrünen Augen.
"Du...", keuchte ich heiser, meine Stimme versagte beinahe.
"Ich. Ja. Ich bin hier, Reyu. Wir sind in deiner Wohnung. Zuhause. Niemand kann dir hier etwas tun. Du bist sicher. Alles wird gut."
Mein Blick fixierte sich auf ihren. Ich wollte ihr glauben. So gerne wollte ich ihr glauben. Ich hatte nur solche Angst. Tränen stiegen in mir auf und ich hatte nicht die Kraft sie zu bändigen. Salzig und heiß liefen sie über die schon eingetrockneten Spuren auf meinen Wangen.
"Gut so, Reyu. Alles ist gut. Versuch nochmal mit mir zu atmen. Hier. Spürst du das? Ruhig. Langsam. Tief. Genau so. Jetzt du."
Ich lauschte dem Rhythmus ihrer Atemzüge. Meine Hand lag auf ihrem Brustkorb, spürte das ruhige Auf und Ab. Langsam passte ich mich ihrer Atmung an.
"So ist gut. Das kannst du weitermachen. Du bist sicher. Niemand tut dir etwas. Du bist nicht allein. Ich bin bei dir."
Langsam atmete ich ein. Das Zittern in meinen Händen hörte nach und nach auf. Ihre Stimme blieb ruhig und leise und ich hörte ihr zu, bis ich ihr allmählich Glauben schenkte. Ich war sicher. Niemand wollte mir etwas antun. Ich war nicht allein. Sie war bei mir.
Vorsichtig hob ich eine Hand. Ich war wieder Herr meines Körpers. Ganz langsam näherte ich mich ihrem Gesicht, strich ihr dann mit dem Daumen über die trockenen Lippen. Ihre Ruhe drang langsam auch in mein Inneres ein und beruhigte den Sturm, der darin tobte, der in mir das Bedürfnis weckte zu rennen. Zu fliehen. Irgendwohin. Nur weg.
Dabei wollte ich doch bleiben. Hier. Genau hier.
Mein Herz hörte auf zu rasen. Die Kälte, die meinen ganzen Körper gepackt hatte, verzog sich nach und nach aus meinen Gliedmaßen und langsam hörte auch das Zittern auf. Meine Gedanken wurden klar, mein Verstand war wieder im Hier und Jetzt.
Und langsam begann ich auch zu verstehen, was gerade passiert war. Was noch immer passierte. Wer hier vor mir saß und wen ich gerade so sanft berührte.
Mit einer fließenden Bewegung war ich auf den Beinen und entfernte mich mindestens drei Schritte von ihr. Meine Stimme war wieder fest. Kühl. Angemessen.
"Verschwinde."
DU LIEST GERADE
Burning Jade in a Sea of Amber
Fantasy// Band 2 // Knirschende Knochen, sickerndes Blut und qualvoller Tod - nichts als Alltag im Leben von Reyu, der seit dem Ende des Krieges in der lazalischen Kleinstadt Zintabur als Heiler im Hospital arbeitet. Kaum einer kennt ihn als mehr als einen...