10 • 5 | Reyu

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Valia brauchte einige Tage, um ihr Selbstvertrauen wiederzufinden. Am ersten Tag, nachdem die junge Mutter gestorben war, traute sie sich kaum, auch nur einen Verband anzulegen. Irgendwo griff die Soldatin in ihr durch, sodass sie sich diese Unsicherheiten kaum anmerken ließ. Auch ihre Schuldgefühle hielt sie gut unter Verschluss, gab sich präzise und unberührt.

Doch die Zögerlichkeit in ihren Bewegungen und die hilfesuchenden Blicke in meine Richtung sprachen eine andere Sprache. Ich glaubte nicht, dass außer mir jemand mitbekam, wie sie sich am liebsten von allen Patienten fernhalten würde und nur weitermachte, weil es die Pflicht von ihr verlangte. Ohne es groß zu kommentieren nahm ich sie unter meine Obhut, übertrug ihr nur allmählich wieder mehr Verantwortung und bestätigte sie in ihren Handlungen.

Sie machte vor mir Mittagspause, sodass wir uns abwechseln konnten. Ich sah, wie sie mit Anaya im Pausenraum zusammen saß, den Kopf erschöpft auf die Hände gestützt hatte und lustlos in ihrem Essen herum stocherte. Besorgt beobachtete ich sie kurz und überlegte, ob ich zu ihr gehen sollte, beschloss dann aber, dass ihre Kollegin sich schon um sie kümmern würde.

Als wir uns schließlich ablösten, war ich umso überraschter, als Anaya mir entgegentrat. “Auf ein Wort, Reyu.”

Fragend hob ich eine Augenbraue. “Was ist?”

Wortlos deutete sie in den Pausenraum und führte mich dort in eine ruhige Ecke, in der uns niemand hören würde. Überrascht starrte ich sie an. Ich glaubte nicht, dass ich mit ihr überhaupt schonmal über etwas gesprochen hatte, das nichts mit der Arbeit zu tun hatte. Was vielleicht daran liegen könnte, dass ich mir bei ihr nie die Mühe gemacht hatte, meine Abneigung gegenüber Caraliv zu verbergen.

Mit verschränkten Armen richtete sie ihren blaugrauen Blick auf mich. “Dein Vorhaben ist nicht gerade unauffällig.”

“Aha.” Unbeeindruckt starrte ich ihr entgegen. “Was ist denn mein Vorhaben?”

“Valia von Ashan abbringen.”

“Scharf kombiniert”, erwiderte ich trocken und verdrehte die Augen. “Du verschwendest meine Zeit.”

“Nein, hör mir zu”, widersprach sie und hielt mich mit einem Griff an meinem Oberarm davon ab, mich von ihr abzuwenden. Unwillkürlich zuckte ich zusammen, schlug ihre Hand mit einer schnellen Bewegung beiseite und trat einen Schritt zurück, damit sie nicht nochmal auf die Idee kam, mich zu berühren. Beschwichtigend hob sie beide Hände, sprach aber dennoch weiter. “Das, was du heute den ganzen Tag schon machst, das, was du gestern Abend gemacht hast - ja, sie hat es mir erzählt - ist genau das, was sie braucht.”

Irritiert hielt ich inne. Das war nicht der Anfang, mit dem ich gerechnet hatte.

“Und es ist gut, dass du das machst. Aber bitte vergiss nicht, dass sie gerade … emotional sehr zerrissen ist. Sie weiß nicht, was sie will - wen sie will - und das macht sie fertig. Vor allem, weil du jetzt plötzlich nicht mehr der gefühlskalte Klotz bist, sondern ihr zeigst, dass du dich um sie kümmerst.”

Schweigend starrte ich sie an, bis sie irgendwann etwas verunsichert den Blick abwandte und mir nicht mehr in die Augen sah. “Auch wenn ich ihr das fast nicht glaube”, murmelte sie und räusperte sich dann.

“Ich glaube, dass sie sich eigentlich schon entschieden hat. Sie braucht nur noch etwas Zeit, um sich dessen bewusst zu werden. Aber was ich dir eigentlich sagen will: Wehe, du hörst damit wieder auf. Ich hätte dir das zwar niemals zugetraut, aber du tust ihr gut. Und Ashan ist ein idiotischer Geier.”

Ihr letzter Satz kam so unerwartet, dass ich unwillkürlich etwas grinsen musste. “Was?”

Nun war sie es, die die Augen verdrehte. “Tu nicht so, als wären das Neuigkeiten für dich. Ich war ein paar Mal mit den beiden unterwegs und der Typ ist ein absoluter Idiot. Ja ja, wo die Liebe hinfällt und so, aber Ashan ist wirklich ein unfähiger Taugenichts. Das kann ich ihr zwar schlecht sagen, weil ich sie ja unterstützen muss, aber da habe ich noch lieber dich die ganze Zeit an der Backe. Und das will was heißen, du bist nämlich auch nicht gerade ein Sonnenschein.”

“Nicht?”, fragte ich sarkastisch nach, fand es aber insgeheim ziemlich amüsant, dass Anaya Ashan genauso wenig leiden konnte wie ich. Mussten wir also nur noch Valia ebenfalls davon überzeugen.

“Nein, tatsächlich nicht. Aber du wirst dich gefälligst um sie kümmern und dafür sorgen, dass ich mich nicht die ganze Zeit mit diesem Geier von einem Caraliv abgeben muss.”

Ich schenkte ihr ein spöttisches Lächeln, war schon wieder halb im Gehen. “Herzlichen Glückwunsch. Das ist das erste und einzige Mal, dass ich eine Anweisung von dir befolgen werde.”

Anaya warf mir einen tödlichen Blick zu und schob sich dann an mir vorbei, um wieder an die Arbeit zu gehen. Mit einem nach außen hin unsichtbaren Schmunzeln setzte ich mich an den Tisch und machte nun selbst meine Pause.

Ich wertete es als außerordentlich gutes Zeichen, zumindest für meine Zwecke, dass Valia sich an diesem Abend nicht von Ashan abholen ließ, sondern gleich nach Hause zurückkehrte, wo sie früh ins Schlafzimmer verschwand. Entweder waren das noch die Auswirkungen der gestrigen Ereignisse oder sie hatte mal wieder einen ihrer nächtlichen Ausflüge geplant, die sie mir noch immer geheim halten wollte, obwohl wir beide wussten, dass ich jedes Mal aufwachte. In beiden Fällen wollte ich sie nicht mehr stören und ließ sie deswegen in einfach in Ruhe.

Die nächsten Tage merkte ich, wie es ihr wirklich immer besser ging und sie wieder mehr Selbstvertrauen schöpfte, wenn es an die Behandlung von Patienten ging. Außerdem entging mir nicht, dass Anaya die ersten paar Tage immer gegen Schichtende kurz nach draußen verschwand und einige Minuten später wiederkam, Valia zunickte und dann wieder ihren Aufgaben nachging.

Ich war nicht auf den Kopf gefallen. Ich wusste, dass Valia keine Zeit mehr mit Ashan verbrachte und dass sie sich gleichzeitig vor dem Gespräch mit ihm drückte. Wir verloren kein Wort darüber, doch als sie nach ungefähr einer Woche mit den Nerven sichtlich am Ende eine halbe Stunde nach mir nach Hause kam, brauchte ich auch keine Bestätigung mehr.

Ohne ein Wort nahm ich ihr den Umhang ab, setzte sie vor das Feuer und beobachtete, wie die Schneeflocken in ihren Locken langsam schmolzen, während sie die Finger in Richtung der Flammen hielt, um sich aufzuwärmen.

Gerade legte ich Holz nach, um der eisigen Kälte der wirbelnden Flocken draußen entgegenzuwirken, als ich spürte, wie ihr Blick sich auf mich richtete. Ruhig sah ich ebenfalls auf und begegnete ihren jadegrünen Augen.

Unausgesprochene Worte lagen in der Luft. Sie hatte endlich mit Ashan Schluss gemacht, etwas, das ich schon lange erwartet hatte, doch nun war es endgültig.
Sie gehörte mir.

Gerade zögerte ich noch, wollte nicht zu voreilig sein, wenn sie gerade nervlich nicht ganz auf der Höhe war, als sie sich als Erste in meine Richtung lehnte und den Abstand zwischen uns mit einem Kuss vernichtete.

Burning Jade in a Sea of AmberWo Geschichten leben. Entdecke jetzt