07 • 2 | Reyu

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Mein Vater war in meiner Kindheit nicht oft bei uns gewesen, doch er war immer mein größtes Idol. Die wenigen Male, als er vom Krieg zurückkam und für einige Tage bei uns wohnte, erschien er mir immer so unfassbar weise, so erhaben, als könnte er alles erreichen, was man erreichen konnte.

Die zwei Söhne, die unsere Mutter ihm gebar, waren sein größter Stolz. Er zeigte uns, dass es eine Ehre war, zu Soldaten aufzuwachsen, unser Land im Krieg zu vertreten und alles dafür zu geben.

Bei jedem Besuch hatte er neue Geschichten, die er Naevan und mir erzählte, neue Lektionen, die er uns beibrachte. Eine davon war mir besonders im Gedächtnis geblieben. Er hatte eine schlimme Knieverletzung gehabt und so lange gebraucht, um sich davon zu erholen, dass er von seinem Stützpunkt abgezogen wurde und bei uns zuhause einzog.

Es war das erste Mal, dass mein Bruder und ich ein vollständiges Familienleben erfuhren. Unsere Mutter kümmerte sich um unseren Vater, sorgte sich um uns und passte sich an ihre Rolle an. Unser Vater ging respektvoll mit ihr um und mischte sich nicht in ihre Gewohnheiten ein, auch wenn er als Mann in der Ehe dazu jegliche Freiheiten gehabt hätte. Ich war zu diesem Zeitpunkt zehn Jahre alt gewesen, doch auch bei mir war angekommen, dass er sich bemühte, unserem normalen Familienleben nicht im Weg zu stehen.

Es war ein Abend, der mir besonders in Erinnerung geblieben war. Meine Mutter war mit Kochen beschäftigt und Naevan und ich hatten uns entgegen ihrer Anweisung in Vaters Zimmer geschlichen. Er war seit einem halben Monat hier, hatte jedoch seitdem noch nicht aufstehen können. Wir setzten uns zu ihm auf jeweils eine Bettseite und er zeigte uns den blutigen Verband, der beinahe sein ganzes Bein bedeckte.

Naevan war so entsetzt, so verstört, dass Vater die Decke schnell wieder über das Bein legte. "Meine Söhne", begann er dann und legte einen Arm um jeden von uns. Es war eine vertraute Geste, eine, die man von ihm nicht oft bekam. Ich tauschte einen Blick mit Naevan und wir grinsten uns an. "Ihr seid alt genug, um zu verstehen, was Schmerzen bedeuten."

Wieder tauschte ich einen Blick mit meinem Bruder. Das klang nicht wie eine amüsante Geschichte aus dem Krieg.

"Ihr habt sie noch nie erlebt, aber ihr werdet sie noch erleben. Im Krieg kommt keiner ohne aus. Weder Lazaliv noch Caraliv, weder Mann noch Frau, weder Kind noch Soldat."

"Aber", unterbrach Naevan ihn, "Frauen kämpfen nicht im Krieg. Und Kinder auch nicht." Seine unschuldigen, großen Augen sahen Vater verwirrt an, während er versuchte zu verstehen, was man ihm sagen wollte.

"Das stimmt. Aber es gibt auch zwei Arten von Schmerzen."

Er machte eine Pause, in der ich gespannt näher zu ihm rutschte. Allerdings dauerte mir diese Stille zu lang und ich tippte ihn ungeduldig auf die Schulter. "Was für zwei Arten gibt es?"

"Die erste Sorte ist die, die ich gerade spüre." Mit einem Nicken deutete er auf sein Bein. "Es quält mich, Tag und Nacht in jeder Sekunde, aber ich weiß, wieso ich ihn ertragen muss. Ich ertrage ihn für unser Land, für Thazanur, für unseren König. Und ich ertrage ihn für euch. Für euch beide, meine Söhne, und für eure Mutter. Das ist mein Antrieb, der Gedanke, aus dem ich all meine Energie ziehe."

Wieder machte er eine Pause. Noch während ich darüber nachdachte, was er gerade gesagt hatte, stellte Naevan ungeduldig die nächste Frage. "Und die zweite Sorte?"

Ein Seufzen entwich unserem Vater bei diesen Worten und er brauchte abermals einige Sekunden, bis er antwortete. "Die spüre ich, wenn ich eure Mutter sehe. Diese Art von Schmerz ist nicht begrenzt auf ein Körperteil oder auf eine bestimmte Stelle. Ich spüre ihn in meinem Herzen, in meiner ganzen Brust, in jeder Bewegung. Ich spüre ihn, wenn ich euch mit eurer Mutter sehe. Ich spüre ihn, wenn sie von eurem Hauslehrer erzählt, wenn sie ihn nach euren Stunden zum Essen einlädt, wenn er Witze reißt und euch alle zum Lachen bringt."

Diese Aussage hatte mich verwirrt. Ich wusste noch, wie ich einen Blick mit Naevan getauscht hatte, wie wir uns beide gefragt hatten, ob unser Vater noch wusste, wovon er sprach.

"Und diese Art von Schmerz ist die weitaus schlimmere", fuhr er unbeirrt fort. "Weil ich sie nicht für euch ertrage. Ich kann sie nicht für euch, für eure Mutter durchstehen, für die, die mir wichtig sind. Denn die sind es, die diesen Schmerz verursachen. Und es tut so viel mehr weh als alles, was ein Schwert je anrichten könnte. Ich wünsche es euch nicht, doch ich weiß, dass ihr das eines Tages verstehen werdet."

Und in diesem Moment war meine Mutter hereingewuselt, hatte uns sofort aus dem Schlafzimmer gescheucht und uns geschimpft, dass wir unseren Vater nicht stören sollten. Naevan und ich hatten einen verwirrten Blick getauscht, bestätigt, dass wir seine Aussagen beide nicht verstanden, und hatten keinen zweiten Gedanken mehr daran verschwendet.

Doch wie so oft hatte Vater Recht behalten. Das erste Mal, dass ich wieder an seine Worte gedacht hatte, war in einem Verlies in Samalfar gewesen, mit aufgerissenem Rücken und angeketteten Handgelenken. Schon da hatte ich ihm zugestimmt, dass man Schmerz leichter ertrug, wenn man ihn für jemanden ertrug.

Von seiner zweiten Aussage hatte ich zu diesem Zeitpunkt schon verstanden gehabt, was meine Mutter getan haben musste, was zu ihrem plötzlichen Verschwinden nach Vaters Tod passte.

Und nun wies ich Valia von mir ab, ließ sie dort im Medikamentenlager stehen, und ich verstand, was mein Vater mir hatte sagen wollen.

Mit körperlichem Schmerz kannte ich mich aus. Ich wusste, wie ich ihn aushalten konnte. Ich wusste, für wen ich ihn aushielt.

Auch mit Verlust kam ich klar. Eine Liebe, die meinem Leben einen Sinn gegeben hatte, die allein wegen mir gestorben war, die so viel zurückgelassen hatte.

Der Schmerz, der sich nun in mein Herz krallte, war allerdings noch so viel schlimmer. Ich wusste, dass ich Valia wehtat, dass ich ihr etwas Gutes tun könnte, wenn ich mich nur anders entscheiden würde. Doch ich konnte nicht. Es war ein zu großes Risiko.

Was mit Rajana passiert war, durfte sich nicht wiederholen. Ich hatte keine andere Wahl, als Valia zu schützen. Und das ging nunmal am besten, indem ich sie von mir fernhielt.

Ohne mein Zutun trugen meine Flügel mich auf den Dachboden. Ich brauchte einen Moment für mich. Unruhig begann ich dort auf und ab zu laufen und währenddessen an meiner Schnitzerei weiterzuarbeiten.

Ich fühlte mich eingeengt, eingesperrt, bedrängt. Doch draußen stürmte es nach wie vor und Gewitterwolken türmten sich so hoch auf, dass es unmöglich war, darüber zu fliegen. So hoch oben würde ich nicht atmen können und in diesen Temperaturen könnte ich innerhalb von wenigen Minuten erfrieren. Also musste ich wohl oder übel hier bleiben und mir wieder und wieder dieselbe Frage stellen.

War es richtig, Valia abzuweisen?

Ich würde sie so gerne glücklich sehen. Mein Herz schlug etwas schneller, als ich an ihr Lächeln dachte. Wie sie sich mit der Hand durch die Haare fuhr, wenn sie nervös war. Wie ihre Locken nahezu immer perfekt auf ihre Schultern fielen. Sie war hübsch. Das konnte ich einfach nicht abstreiten, so gern ich sie auch abstoßend finden würde. Das würde das alles so viel einfacher machen.

Doch es war nicht nur das. Ich konnte nicht genug von dem Funkeln in ihren Augen bekommen, wenn sie lachte. Oder von ihrer Ruhe, wenn alles in mir tobte. Von der Selbstverständlichkeit, mit der sie meine Geheimnisse wahrte, mit der sie mir half und mich nicht deswegen lächerlich machte.

Energisch schüttelte ich den Kopf. Ich musste mich auf andere Gedanken bringen, bevor ich geradewegs wieder zu Valia ging und ihr erklärte, dass ich es mir doch anders überlegt hatte. Die Pause dauerte sowieso schon viel zu lange. Mit einigen tiefen Atemzügen fokussierte ich mich und schob das Bild der jadegrünen Augen aus meinem Kopf. Dann segelte ich wieder hinunter in die Halle und widmete mich den Patienten.

Burning Jade in a Sea of AmberWo Geschichten leben. Entdecke jetzt