Wie immer war es unmöglich, sich Reyu unbemerkt zu nähern. Er drehte den Kopf zu mir, sobald ich neben ihm in der kühlen Nacht stand und mich genauso wie er an die Hauswand lehnte.
“Ich nehme an, das war dir mal wieder zu viel sozialer Kontakt?”, fragte ich nach einigen Sekunden der Stille nach. Reyu hatte sich schon nach den ersten Minuten der Planungsphase kaum mehr zu Wort gemeldet, war irgendwann unbemerkt einfach verschwunden und hatte Tyrak die Verantwortung überlassen.
Kaum merklich zuckte er mit den Schultern. “Ich bin nicht der Mann für große Pläne und ausgearbeitete Strategien. Ich führe sie aus, ich gehorche Befehlen. Das Ausklügeln überlasse ich gerne anderen.”
“Ist deswegen Tyrak euer Anführer? Die Mitglieder gehorchen eher dir als ihm”, stellte ich fest und dachte an den Moment zurück, als Tyraks Befehl direkt dem Reyus gegenübergestellt gewesen war und alle Anwesenden auf Letzteren gehört hatten.
Reyu neigte zustimmend den Kopf. “Tyrak ist der Stratege von uns beiden. Er macht die Pläne und ich gebe sie weiter. Wir passen normalerweise ganz gut zusammen. Wie lief die Planung?”
“Eigentlich ganz in Ordnung, denke ich. Es ist natürlich noch nicht ganz ausgereift, aber wir haben ja noch etwas Zeit.”
“Hoffentlich.”Seufzend nickte ich und lehnte mich mit dem Rücken an ihn. “Wir bekommen das schon hin. Und wenn du mich doch töten musst und mich angreifst, keine Sorge, ich gewähre dir einen schnellen Tod im Gefecht.”
Die Brust hinter mir vibrierte kaum merklich, als Reyu leise lachte. Mit einem Lächeln drehte ich mich um und hauchte ihm einen sanften Kuss auf die Lippen. “Fliegen wir heim? Also … dahin wo wir schlafen können. Eine Wohnung von der Schwarzen Krone.”
“Ja. Aber du musst mir sagen, wohin.” Wie gewohnt legte er die Arme um meinen Oberkörper und trat einen Schritt von der Wand weg, bevor er seine Flügel entfaltete und nach einem bestätigenden Nicken meinerseits abhob.
Sobald wir uns über den Hausdächern befanden, merkte ich, dass etwas nicht stimmte. Es war spät am Abend, mitten im Winter, doch der Himmel über Zintabur war regelrecht überfüllt. Und das nicht mit Einzelpersonen - zwei enge Soldatenformationen zogen ihre Kreise über den Häusern und einige Wachen standen reglos in der Luft, behielten das Geschehen im Auge.
Natürlich entging das auch Reyu nicht, der sofort in einen Sturzflug überging und wieder auf den Boden zurückkehren wollte.
Ein Soldat schnitt ihm mitten in der Luft den Weg ab und hielt uns eine Laterne ins Gesicht, die mich mit meinen an die Dunkelheit gewöhnten Augen blendete. “Name, Adresse, Beruf und die Gründe, für die Ihr zu so später Stunde noch in der Luft seid”, forderte der Soldat, während ich noch versuchte, meine zusammengekniffenen Lider zu öffnen, ohne ausschließlich das helle Licht zu sehen.
Gerade, als sich meine Augen an das Laternenlicht gewöhnten und Reyu zu einer ziemlich sicher gelogenen Antwort ansetze - so, wie ich ihn kannte, hatte er vermutlich eine vollständig durchdachte zweite Identität, die er für so etwas nutzen konnte - blitzte in den Augen des Soldaten für den Bruchteil einer Sekunde etwas auf, das nichts anderes als Erkennen sein konnte. Danach war sein Gesicht zwar wieder sachlich und distanziert, doch dieser kleine Moment war genug gewesen.
Die Patrouillen am Himmel suchten direkt nach uns. Und sie waren fündig geworden.
So ruckartig, dass mein Kopf gegen seine Schulter prallte, drehte Reyu ab und beschleunigte mit schnellen, kräftigen Flügelschlägen, steuerte auf den Boden zu. Mit mir im Arm konnte er nicht kämpfen, wir mussten runter vom Himmel.
Hinter uns ertönte ein schriller Pfeifton und ein Ruf schallte durch die kalte Nachtluft. Mit einem Mal erklangen mehrere Flügelschläge um uns herum, doch mit meiner Position eng an Reyu gedrückt und seinen engen Kurven und Drehungen war es für mich unmöglich, die Orientierung zu behalten, geschweige denn unsere Feinde auszumachen und zu bekämpfen. Schwindel erfasste mich, als Reyu sich einige Male um sich selbst drehte - schraubten wir uns gerade wieder nach oben? - und ich mit ihm herumgewirbelt wurde.
Dann rammte uns etwas in die Seite, vermutlich ein anderer Lazaliv, einer von Reyus Flügeln wurde ruckartig zur Seite gerissen und wir trudelten durch die Luft, hatten keinen Halt, keine Orientierung.
Der Aufprall war so hart, dass mir alle Luft aus den Lungen gepresst wurde. Ich spürte Stein unter meinem Körper, kalten Beton, keine warme Brust Reyus mehr. Meine Rippen schienen in meine Lunge zu drücken, ich konnte keine Luft holen, nicht einatmen, nicht ausatmen. Verzweifelt schnappte ich nach Luft, bekam immer nur kleine Portionen, jedes minimale Einatmen ließ einen stechenden Schmerz durch meinen Brustkorb schießen.
Schwarze Punkte tanzten vor meinen Augen, als ich nur am Rande mitbekam, dass Reyu auf den Beinen war, sich blitzschnell um mich herum bewegte und in kurzen Abständen das Geräusch von Metall auf Metall erklang. Mit all meiner Willenskraft zwang ich mich dazu, ruhig zu werden. Langsam versuchte ich einzuatmen. Meine Lungen füllten sich mit Luft, meine Sinne schärften sich wieder.
Zwei, drei Sekunden brauchte ich noch, bis ich meinem Kreislauf wieder vertraute, dann hatte auch ich die Situation vollends erfasst. Mit einer fließenden Bewegung kam ich auf die Beine, zog gleichzeitig mein Schwert und wehrte sogleich eine Klinge ab, die sich sonst in Reyus Oberschenkel versenkt hätte. Für den Bruchteil einer Sekunde trafen sich unsere Blicke und ich sah, dass ihm das nicht entgangen war, doch die Soldaten forderten sofort wieder unsere Aufmerksamkeit.
Rücken an Rücken traten wir gegen die Angreifer an, doch schon nach den ersten Sekunden, in denen ich in den Kampf mit eingestiegen war, wusste ich, dass es völlig ausweglos war. Reyu war ein außerordentlicher Kämpfer - ich hatte noch nie jemanden so präzise und so flüssig mit zwei Schwertern umgehen sehen - doch die Soldaten waren einfach zu zahlreich. Mindestens fünf lagen schon reglos auf dem Boden, doch mehr als das Doppelte war noch auf den Beinen und sicher war Verstärkung schon auf dem Weg.
Einen winzigen Moment war ich zu langsam und ich steckte einen Hieb gegen die Schulter ein. Blut schoss aus der Wunde und wurde von meinem Ärmel aufgesaugt. Sofort wechselte ich den Schwertarm und kämpfte mit dem anderen weiter. Bei jedem Atemzug stach der Schmerz in meinen Brustkorb, wurde mit jeder Bewegung schlimmer.
Reyu hinter mir nutzte seine Flügel, war immer mal wieder einige Meter in der Luft und versuchte die Gegner von hinten einzukreisen, doch alleine kam er nicht gegen sie an - ein gut gezielter Pfeil von mehreren Metern Entfernung bohrte sich in seine Schwinge und brachte ihn unsanft zu Boden. In dem kleinen Moment, den er brauchte, um sein Gleichgewicht wiederzufinden, stach ein Soldat sein Schwert in Reyus Unterschenkel und zog es mit einem schmatzenden Geräusch wieder heraus, als das Bein unter Reyu nachgab.
Ich musste mich von ihm abwenden, um mich selbst zu verteidigen, doch als er das nächste Mal in mein Blickfeld kam, sah ich aus dem Augenwinkel, wie ihm eines der Schwerter aus der Hand gerissen wurde. Er kämpfte sichtlich damit, auf den Beinen zu bleiben, doch wie bei einem Tier schien ihn der Schmerz in seinem Flügel und in seinem Bein noch wilder zu machen, er griff nach seinen Wurfmessern und holte innerhalb von drei Sekunden fünf Lazaliv vom Himmel.
Ich wirbelte herum, als hinter mir ein Flügelschlag erklang, und stach reflexartig mit dem Schwert nach oben, traf auf Fleisch und wollte mich sofort wieder dem nächsten Gegner zuwenden, als mich ein kraftvoller Stoß in den Rücken aus dem Gleichgewicht brachte. Beinahe im gleichen Moment zerrten mehrere Hände an mir, drehten mir den Arm auf den Rücken und sendeten eine Welle an Schmerz durch meine bei dieser Kälte immer noch steife Schulter, so stark, dass ich mit einem Aufschrei mein Schwert fallen ließ.
Ein Tritt in die Kniekehlen beförderte mich auf die Knie. Ich versuchte mich zu wehren, um mich zu schlagen, zu treten, sogar zu beißen - vergeblich. Ein Seil schlang sich hinter meinem Rücken um meine Handgelenke, zwei Lazaliv drückten mich zu Boden und ließen das Stechen in meinem Brustkorb so brennend werden, dass mir beinahe schwarz vor Augen wurde.
Durch den Nebel aus Schmerz hindurch nahm ich wahr, wie Reyu meinen Namen rief, wie er versuchte, sich zu mir durchzukämpfen, doch ein Schwertknauf wurde ihm gezielt auf den Kopf geschlagen und er fiel zu Boden, wo er reglos liegen blieb.
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Burning Jade in a Sea of Amber
Fantasi// Band 2 // Knirschende Knochen, sickerndes Blut und qualvoller Tod - nichts als Alltag im Leben von Reyu, der seit dem Ende des Krieges in der lazalischen Kleinstadt Zintabur als Heiler im Hospital arbeitet. Kaum einer kennt ihn als mehr als einen...