Ein Gewicht war von meinen Schultern gehoben, das ich erst spürte, als es weg war. Natürlich war das Gespräch mit Ashan nicht einfach gewesen. Ich hatte ihm das Herz gebrochen und ihn weggeschickt, nachdem er nur für mich die Reise von unserem Dorf Catavar auf sich genommen hatte. Bei unserem Abschied hatte er es mit Fassung getragen, wollte nicht, dass ich merkte, wie tief er verletzt war, hatte dabei aber ziemlich versagt.
Es tat mir leid, dass ich ihn so abweisen musste. Doch inzwischen wusste ich, dass es die richtige Entscheidung gewesen war.
Über die Halle hinweg hielt ich nach Reyu Ausschau und beobachtete ihn, wie er gerade unfreundlich auf einen Patienten einredete, der vermutlich irgendetwas falsch gemacht hatte. Als er dieses Anschnauzen beendet hatte, schob sich ein Kollege an ihm vorbei und Reyu fuhr auch diesen an, sodass er zusammenzuckte und sichtlich kleinlaut weitereilte.
Reyu spürte meinen Blick anscheinend auf sich ruhen, denn nun hob er den Kopf und blickte direkt in meine Richtung. Als er mich sah, lockerte sich sein grimmiger Blick und er grinste mich einen kleinen Moment an. Mein Herz machte einen winzigen Sprung und unwillkürlich musste ich auch lächeln, als ich die kleinen Grübchen in seinen Wangen erscheinen sah, während er sich schon wieder der Arbeit zugewandt hatte.
Schon von Anfang an hatte ich mit meiner Vermutung Recht behalten, dass Reyu niemand war, der unsere Beziehung an die große Glocke hängen würde. Er bemühte sich auch nicht gerade, sie geheim zu halten, doch vor allem, wenn wir in der Stadt unterwegs waren, merkte ich, dass er etwas vorsichtiger war. Den Grund dafür konnte ich mir auch denken, ohne dass wir darüber sprachen. Seine Rebellengruppe wäre sicherlich nicht begeistert davon, wenn sie wüsste, dass er mit einer Caraliv zusammen war.
Ich hatte nicht unbedingt etwas dagegen. Es würde ohnehin nicht zu Reyu passen, wenn er jetzt jedem voller Stolz von seiner neuen Freundin erzählen würde. Stattdessen zeigte er seine Zuneigung mit kleinen, unauffälligen Dingen. Dieses Grinsen gerade eben. Die scheinbar unabsichtlichen Berührungen, wenn wir aneinander vorbeiliefen, die jedes Mal ein klein wenig zu lange dauerten, um wirklich ausversehen zu sein. Die flüchtigen Küsse in einem unbeobachteten Moment, die mich jedes Mal freuten.
Mit einem Gähnen warf ich einen Blick zu den Fenstern, die nun im Winter fest verschlossen waren und nicht mehr für die Bequemlichkeit der Lazaliv weit offen standen. Die nächste Schicht sollte bald kommen und ich konnte kaum mehr erwarten, nach Hause zurückzukehren und endlich nicht mehr stehen zu müssen. Ich hatte heute kaum einen Moment Zeit gehabt, um mich hinzusetzen und durchzuatmen, sodass meine Füße nun von mehreren Stunden stehen und laufen schmerzten.
Als hätte ich sie damit gerufen, kamen einige Sekunden später Jefor und Neciel durch die Türen, durch die mit ihnen ein eisiger Luftstoß und einige Schneeflocken kamen, gemeinsam mit dem noch lauteren Heulen des Windes, den man auch hier im Gebäude deutlich vernehmen konnte. Mit einem Handzeichen sprachen wir uns ab und Reyu und ich gingen gemeinsam zu den beiden Soldaten, die noch immer hier waren, um die Diebstähle zu verhindern. Seitdem das Hospital rund um die Uhr Unterstützung hatte, war bis auf einige Kleinigkeiten nichts mehr entwendet worden, und diese konnte man sich auch als Ungenauigkeiten im Protokoll einreden.
Wir meldeten uns ab und die Brüder an und holten dann unsere Umhänge aus dem Mitarbeiterraum. Schon heute Morgen war der Wind zu stark gewesen, als dass Reyu hätte fliegen können, sodass wir den Weg zum Hospital zu Fuß und immer nahe an den Hauswänden zurückgelegt hatten.
Meine Befürchtung bewahrheitete sich und wir mussten wieder laufen. Meine Finger wurden taub, trotz des dicken Winterumhangs, und meine Zehen waren so kalt, dass sie schmerzten, als ich schließlich nach einer gefühlten Ewigkeit in die Wohnung kam und sie langsam auftauen konnte.
“Diese Kälte ist nicht gut für meine Schulter”, stellte ich fest, während wir uns den Schnee von den Schultern klopften und die Umhänge über den Kamin hängten, in dem Reyu nun das schon vorbereitete Feuer entzündete. Vorsichtig bewegte ich meinen Arm nach oben und verzog das Gesicht, als ich merkte, wie steif das Gelenk war.
“Das ist eigentlich normal, weil die Kälte jetzt so plötzlich kam. Bis vorgestern war es ja noch nicht einmal Schneetemperatur und jetzt wird gerade die ganze Stadt eingeschneit”, erwiderte Reyu und hielt seine Finger in Richtung der Flammen, die begannen, das trockene Holz im Kamin zu verschlingen.
“Kannst du es dir trotzdem einmal ansehen?” Ich sparte mir das zweite Feuer im Ofen in der Küche und trug den Topf mit der Suppe gleich ins Wohnzimmer, wo ich die Metallvorrichtung ins Feuer stellte und dann den Topf darauf. “Ich will nicht, dass ich wieder Probleme damit bekomme.”
“Natürlich.” Reyu legte einen Arm um mich, nachdem ich mich neben ihn gesetzt hatte, und ich lehnte mich zufrieden an seine Schulter.
Es dauerte eine Weile, bis die Suppe heiß war, doch wir sprachen in der Zeit kein Wort. Das war auch eine Sache, die ich niemals mit Ashan hätte machen können. Wir hatten uns immer unterhalten, er hatte immer Witze gerissen und mich zum Lachen gebracht. Mit Reyu hatte ich nicht das Geringste dagegen, wenn es mal eine halbe Stunde still war - ganz im Gegenteil. Es gab wenige Momente, die ich mehr genoss, als diese Zeit, in der wir uns einfach still in der Gesellschaft des anderen entspannten.
Während die Wohnung sich langsam etwas gemütlicher und nicht mehr so ausgekühlt anfühlte und die Suppe uns von innen wärmte, heulte der Wind draußen weiter, so laut wie schon den ganzen Tag. Es würde mich nicht wundern, wenn wir morgen völlig eingeschneit sein würden. Allerdings mussten wir auch beide erst wieder morgen Abend zur Nachtschicht im Hospital sein, bis dahin konnten wir uns hoffentlich einfach in der warmen Wohnung verschanzen.
“Soll ich mir deine Schulter jetzt anschauen?”, fragte Reyu, nachdem ich die Suppenteller abgespült hatte und wieder zu ihm vor den Kamin kam. “Ich wollte mir sowieso mal anschauen, wie weit die Übungen inzwischen gehen.”
“Weit”, behauptete ich. “Hat jetzt ja auch lange genug gedauert.” Inzwischen konnte ich mir das Oberteil sogar wieder über den Kopf ziehen, musste zwar vorsichtig sein, doch langsam machte mein rechter Arm das wieder mit. Mit der linken Hand lockerte ich die Bluse, die ich darunter trug, und konnte so meine Schulter offenbaren.
Reyu trat hinter mich und ließ die Finger langsam über meine Haut wandern, betastete die Stelle, an der mein Schlüsselbein gebrochen war, und war dabei so vorsichtig, dass ich nicht einen Hauch von Schmerz verspürte. “Die Wunde ist inzwischen gut verheilt, der Knochen müsste auch gut wieder zusammen gewachsen sein”, meinte er und klang dabei ziemlich zufrieden.
Ich nickte nur und konnte nicht verhindern, dass sich von seiner Berührung eine Gänsehaut ausging, die sich auf meine gesamte rechte Seite ausweitete. Seine Finger waren warm und rau und schienen kleine Blitze meinen Rücken hinunter zu jagen.
Für einen Moment hatte ich den Eindruck, er würde die Berührung etwas in die Länge ziehen, als würden seine Finger zwei Sekunden zu lange auf meiner Haut verweilen. Doch dann nahm er sie weg und ich ertappte mich dabei, wie ich mich ganz leicht enttäuscht fühlte.
Dem impulsiven Bedürfnis folgend drehte ich mich zu ihm um und nur wenige Zentimeter von meinem Gesicht entfernt begegnete ich seinem hungrigen Blick, in dem ich zu ertrinken drohte. Mit einiger Überwindung wollte ich mich von ihm lösen, doch seine Hand war plötzlich an meinem Kinn und hielt mich davon ab, irgendwo anders hinzusehen als in seine Augen.
Die Spannung lag greifbar zwischen uns. Der Abstand verringerte sich Zentimeter für Zentimeter, bis seine Lippen auf meinen lagen und er mich so küsste, dass ich nichts anderes mehr wahrnahm. Es gab nur noch ihn und mich und diese Hitze, die in mir aufstieg, die mich nach ihm, nach seinem Körper lechzen ließ.
Ich hatte auf einmal die Wand im Rücken, ohne dass ich wusste, wie wir hierhin gelangt waren. Seine Hände wanderten von meiner Wange, von meinem Kinn nach unten, strichen über die entblößte Haut an meiner Schulter und lösten quälend langsam die Verschnürung vor meiner Brust.
Ich keuchte, legte meine Hände über seine, wollte, dass es schneller ging, doch seine Finger schlossen sich um meine Handgelenke und mit einer Hand zog er Schlinge für Schlinge auf, ohne mir eine Möglichkeit zu geben, den Prozess zu beschleunigen. In seinem Kuss lag jedoch eine Leidenschaft, eine Intensität, die mich mit voller Wucht einnahm und in mir eine Lust erweckte, eine Erregung, die alles rationale Denken auslöschte und mich tief in einem Sog aus Hitze und Verlangen versenkte.
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Burning Jade in a Sea of Amber
Fantasía// Band 2 // Knirschende Knochen, sickerndes Blut und qualvoller Tod - nichts als Alltag im Leben von Reyu, der seit dem Ende des Krieges in der lazalischen Kleinstadt Zintabur als Heiler im Hospital arbeitet. Kaum einer kennt ihn als mehr als einen...