16 • 2 | Reyu

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Hinter Tyrak betrat ich den Raum und analysierte das sich uns bietende Chaos mit schnellen Blicken. Das edle Mobiliar war verschoben und teilweise umgestoßen worden, ein Glastisch war nun nichts weiter als ein Haufen Scherben. Zwei reglose Gestalten lagen ausgebreitet auf dem Boden, ihr graues Blut benetzte die winzigen Überreste des Glastisches und brachte sie im Schein der Laternen zum Glitzern.

Zwei Rebellen hielten Kaira in Schach, hatten ihr mit einem Stoffband die Handgelenke hinter dem Rücken zusammengebunden und sie auf die Knie gezwungen. Ihr dunkelblaues Kleid hing zerrissen von der Schulter, der Rock zur Hälfte noch an ihrer Hüfte und zur Hälfte auf dem Boden, ein Beweis dafür, dass sie sich nicht kampflos ergeben hatte. Eine Wunde an ihrem Schlüsselbein ließ schwarzes Blut austreten, das ihr weißes Untergewand färbte, sichtbar an den Stellen, an denen das Kleid zerrissen war. Einer der Rebellen hielt ihren Kopf an den Haaren zurück und entblößte so ihre Kehle, an der eine kleine, silberne Klinge anlag.

Zwei weitere Rebellen standen hinter Azvar, der einige Meter von seiner Frau entfernt auf dem Boden kniete. Auch ihm waren die Handgelenke gefesselt worden, sein Hemd hing halb aus der Hose und war völlig zerknittert, was nicht zu seinem sonst so makellosen Auftritt passte. Eine aufgeplatzte Lippe verteilte rotes Blut über sein Kinn, eine Schramme und ein bereits zuschwellendes Auge waren Ergebnisse des vorangegangenen Kampfes. Zwar hielten die Rebellen ihn an der Schulter zurück, doch machte er keine Anstalten, sich zu wehren. Sein Blick war starr auf Kaira gerichtet und er wandte ihn keine Sekunde von ihr ab, auch nicht, als Tyrak, Valia und ich eintraten.

“Akendr”, begrüßte uns Dewren, der höchstgestellte Rebell unter den vier Anwesenden. Offiziell war die Anrede an Tyrak gerichtet, doch natürlich bemerkte ich den Blick, den er mir dabei zuwarf. Tyrak mochte der Anführer sein, doch Dewrens Unterstützung hatte immer schon mir gegolten, seit ich ihm in einem Gerangel mit zwei Caraliv geholfen und ihm vermutlich das Leben gerettet hatte.

Mein Blick wanderte kurz zu den anderen drei Rebellen. Kaetru, das Mischblut, das ich vor nicht allzu langer Zeit persönlich rekrutiert hatte, und Vatali, der schon immer ein Problem mit Tyrak gehabt hatte. Vielleicht waren das gute Voraussetzungen für meine Absichten, auch wenn ich den vierten Rebellen nicht mit Namen kannte.

Tyrak nahm die Anrede mit keiner Geste zur Kenntnis. Ein kleines, nicht unbedingt freundliches Grinsen hatte sich auf seinem Gesicht ausgebreitet, als er langsam auf Azvar zuschritt und herablassend auf ihn nieder blickte. “Sieh an. Der große König, der Frieden über das Land gebracht hat, kniet vor einem Rebell”, zischte er und Azvar machte eine ruckartige Bewegung in seine Richtung, als wollte er ihn angreifen, doch Tyrak rechnete damit - noch im selben Herzschlag hatte er einen Dolch gezogen und auf Kaira schräg hinter sich gerichtet. “Ich würde aufpassen, wenn ich du wäre, Azvar. Wenn ich provoziert werde, könnte mir dieser Dolch aus der Hand rutschen.”

Der unbändige Hass, der in Azvars Augen brannte, schien Tyrak nur noch mehr zu befeuern. Er warf mir einen Blick zu und nickte zu Kaira, ein Befehl, den ich im Schlaf verstehen würde. Automatisch gehorchte ich und bezog meinen Posten direkt hinter ihr, ein kleines Messer in der Hand. Vatali trat zur Seite und machte mir Platz, musste aber gleich darauf Dewren und Kaetru zu Hilfe kommen, als Azvar begann, sich heftig gegen seine Wärter zu wehren und offensichtlich versuchte, sich zu Kaira durchzukämpfen. Ein Schlag gegen die Schläfe ließ ihn benommen zurück, was ihn nicht davon abhielt, immer noch gegen den Griff der Lazaliv zu rebellieren.

Die Spitze meines Messers legte sich an Kairas Hals. “Sagt ihm, er soll aufhören, sich zu wehren”, befahl ich leise.

Ich spürte, wie sie zittrig Luft holte. “Azvar”, rief sie zaghaft und obwohl das Gerangel vor uns nicht gerade leise war, hielt der König sofort inne und blickte zu ihr. Sorge zeichnete nun seinen vorher vor Wut verzerrten Gesichtsausdruck. “Hör auf dich zu wehren”, sprach sie weiter, die Stimme ruhiger, als ich es ihr zugetraut hätte. “Sie werden dir nur wehtun. Und mir.”

Azvars Blick flackerte zu meiner Hand, zum Messer darin, und wanderte dann weiter nach oben bis in mein grimmiges Gesicht. Langsam ließ er die aggressive Haltung fallen und ergab sich wieder den Rebellen.
Ich wandte den Blick von ihm ab und für einen Moment begegnete ich Valias. Sie hielt sich im Hintergrund, mischte sich nicht ein, doch als wir uns ansahen, erkannte ich die Angst in ihren smaragdgrünen Augen. Sie wollte nicht, dass die beiden starben.

Genauso wenig wie ich. Ich musste nur noch einen möglichst wenig grausamen Weg finden, uns aus dieser Situation zu befreien.

“Ist dir das nicht peinlich? Dich von einer Frau so zurückpfeifen zu lassen?”, fragte Tyrak, der Hohn deutlich in der Stimme. “Reyu.”

Ich hatte keine andere Wahl, als seinem Befehl zu gehorchen. Nicht mehr lange, redete ich mir ein. Nur, bis sich die richtige Möglichkeit ergab.

Die Klinge durchdrang Kairas Haut an ihrer Hüfte, durchschnitt den leichten Stoff ihrer Kleidung und färbte ihn schwarz. Ein Zittern lief durch ihren Körper, doch sie gab keinen Laut von sich. Ich achtete darauf, nicht dort zu stechen, wo Organe lagen, nichts Lebenswichtiges zu verletzen. Das Messer ließ ich stecken, verminderte so den Blutverlust.

Wieder veränderte sich Azvars Gesichtsausdruck. Hass und Wut wichen etwas, das ich in seinen Gesichtszügen nicht für möglich gehalten hätte. Als er sah, wie das Messer seine Frau verletzte, flammte nackte Angst in seinen schwarzen Augen auf. Er würde nichts dagegen machen können, wenn wir sie hier vor ihm folterten. Nichts als zuzusehen und mit ihr zu leiden.

Mit einem Krachen flog die Tür auf und ein weiterer lazalischer Rebell kam hereingeplatzt. Er keuchte, hing stark auf die linke Seite und presste beide Hände auf eine Wunde an seiner Hüfte. Panisch schnappte er nach Luft und stützte sich mit einer blutigen Hand an der Wand ab.

“Was ist passiert?”, fragte Tyrak im Befehlston, ungeachtet der schlechten Verfassung des Neuankömmlings.

“Zuviele. Wachenim. Palast. Zusätzlich”, stieß er zwischen seinen Atemzügen hervor. “Schwarzekrone. Führung. Tot. Roteschar. Fastalle. Najikzu. Schwerbewacht.” Sein Gesicht hatte eine ungesund kalkweiße Farbe angenommen. Lange würde er nicht mehr bei Bewusstsein bleiben. Stöhnend rutschte er an der Wand herab. “Wachen. Kommen. Caraliv.”

Tyrak kniff die Augenbrauen zusammen. “Wie viel Zeit haben wir, bevor sie da sind?”

Der Rebell brauchte einige rasselnde Atemzüge, bevor er eine Antwort hervorbrachte. “Wenige. Minuten.”

Sobald er seinen Dienst getan hatte, wandte Tyrak die Aufmerksamkeit von ihm ab und ignorierte seine angestrengten Atemzüge. Das erschreckte mich. Ich kannte ihn länger als jeden anderen, doch so skrupellos und grausam hatte ich ihn noch nie erlebt. Wenigstens um die Leben seiner eigenen Leute könnte er sich kümmern, schließlich hatte er sie hierher geführt.

“Jemand muss sie gewarnt haben.” Seine Stimme war kühl und indifferent. “Sonst hätten sie Najik nicht strenger bewachen lassen.”

Mein Blick traf für einen winzigen Moment nochmal den Azvars. In dieser Sekunde wurde mir klar, dass die Warnung von Valia und mir doch nicht ganz ungehört geblieben war. Obwohl Azvars Augen so schwarz und undurchdringlich waren wie immer, war ich mir dessen so sicher, als hätte er es mir ins Gesicht gebrüllt. Die Könige hatten uns doch geglaubt. Sie hatten Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Sie hatten uns nur nicht gezeigt, dass sie auf uns hörten - vermutlich für den Fall, dass wir auch in den Mord eingespannt waren und einen Hinterhalt planten, sie mit einem falschen Plan täuschen und in Wahrheit ganz anders angreifen wollten. Vielleicht waren sie ja doch nicht ganz so unfähig. Kaum merklich nickte ich ihm zu, bevor Tyrak sich wieder zu mir drehte.

“Das heißt, wir müssen die Dinge ein wenig beschleunigen. Kümmer dich nicht um sie.” Ein herablassender Blick in Kairas Richtung, dann richtete er seinen Blick auf mich und deutete mit dem Kinn auf Azvar, hielt mir den Dolch des Königs mit dem Griff voran entgegen. “Er gehört dir, Reyu. Töte ihn und mach es so schmerzhaft, dass er den gerechten Preis für die Folter bezahlt, die du erleiden musstest.”

Ich zögerte nur einen winzigen Moment, dann nahm ich den Dolch entgegen. Die Waffe, mit der ich den töten konnte, der für all dieses Leid verantwortlich war. Mit langsamen Schritten trat ich auf Azvar zu.

Burning Jade in a Sea of AmberWo Geschichten leben. Entdecke jetzt