12 • 2 | Valia

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Am Morgen danach ließ Reyu sich nichts mehr anmerken. Oder zumindest versuchte er es, ganz gelingen tat es ihm nicht. Er schlief kaum, sprach noch weniger als sonst und war oft unkonzentriert bei der Arbeit, einmal sogar so unkonzentriert, dass ich ihn dabei beobachtete, wie er ein kleines Mädchen bei der Hand nahm und es zurück zu seiner Mutter führte, ohne seine Abneigung gegenüber Kindern zu zeigen.

So vergingen fünf Tage, in denen Reyu so tat, als wäre alles in Ordnung. Ich wollte ihm helfen, versuchen eine Lösung zu finden für welches Problem auch immer, doch er erzählte mir jetzt genauso wenig wie kurz nach seiner Rückkehr.

Das Wetter blieb so kalt wie die letzten Tage, doch es fiel kein neuer Schnee mehr. Nachdem Reyu und ich beide unsere Schicht beendet hatten, kehrten wir nun nach Hause zurück, während eine Sonne auf- und die andere unterging, ein Ereignis, das nur wenige Tage im Jahr so gleichzeitig stattfand. Nach kurzer Diskussion hatte ich Reyu überredet, nicht nach Hause zu fliegen, sondern einen Spaziergang zu machen und so den Anblick länger genießen zu können.

Mit den Umhängen fest um die Schultern gezogen, bahnten wir uns unseren Weg durch die Straßen. Ein Nachteil der vielen Lazaliv - es dauerte viel länger, bis nach einem Schneefall genug Spuren vorhanden waren, um einigermaßen normal laufen zu können.

Wie so oft schwiegen wir einfach und genossen die Gesellschaft des anderen.

Reyus Hand lag in meiner, seine Finger rau und warm. Nur wenige andere waren unterwegs. Alles war friedlich und ruhig.

Zumindest war es das, bis wir kurz vor der Haustür waren.

Ein einzelner Flügelschlag war die einzige Warnung, die wir bekamen, dicht hinter uns, gefolgt vom leisen Schaben von Metall. Reflexartig fuhr ich herum und wich der Klinge aus, die dennoch mein Gesicht streifte und mir die Wange aufritzte. Instinktiv zog ich mein Schwert und wich einem weiteren Hieb aus, doch bevor ich irgendetwas tun konnte, hatte Reyu ein Messer in der Hüfte des Angreifers vergraben. Stöhnend ging er zu Boden.

Die ganze Aktion hatte so kurz gedauert, dass sie schon vorbei war, als ich sie gerade verarbeitet hatte. Geschockt starrte ich auf den Lazaliv herab, der sein hellgraues Blut im Schnee vergoss und mit flachem Atem seine letzten Momente erlebte.

Auf seinem Umhang befand sich das aufgestickte goldene Wappen der lazalischen Könige.

Langsam sah ich zu Reyu auf. Sein Kiefer war verkrampft, seine Hände zu Fäusten geballt, sein Blick grimmig auf den Angreifer gerichtet. Einige Sekunden verharrten wir so, die angestrengten Atemzüge des Soldaten waren das einzige Geräusch. Dann schüttelte Reyu sich und durchbrach so unser beider Starre.

Seine Finger schlossen sich um meinen Oberarm und er zog mich wortlos in Richtung Haustür. Ohne zu protestieren, folgte ich ihm, warf einen Blick zurück auf den Soldaten und fragte mich, ob es eine gute Idee war, ihn so offen auf der Straße liegen zu lassen. Doch Reyus Griff ließ ohnehin nichts anderes zu, als dass ich ihm folgte.

Sobald wir wieder in der Wohnung waren, drehte er sich zu mir um. “Du bist verletzt.”

Fassungslos starrte ich ihn an, brauchte einen Moment, bis ich antworten konnte. “Wir werden von einem Soldaten deines Königs auf offener Straße angegriffen, du tötest ihn und das Erste, was du für wichtig genug erachtest, um es mit mir zu kommunizieren, ist dieser Kratzer?”

Er schwieg, wischte mir nur den Tropfen Blut von der Wange, der seinen Weg nach unten begonnen hatte.

“Reyu”, sagte ich und legte genug Härte in meine Stimme, dass er aufsah. “Ich denke, es ist Zeit für ein paar Antworten.”

Seine Lippen wurden schmal, seine Augen verengten sich. Nun sah er beinahe so aus, als wäre er wütend auf mich. “Und da bin ich nicht der Einzige”, sagte er leise. “Aber wir müssen zuerst hier weg.”

“Zuerst entfernen wir die Leiche von der offenen Straße”, entgegnete ich. “Man muss es ja nicht offensichtlicher machen als unbedingt nötig.”

Er warf mir kurz einen Blick zu, den ich nicht ganz definieren konnte, und nickte dann. “Pack dein Zeug zusammen. Wir werden hier erstmal nicht zurückkommen können.” Wieder sah er mich an, als würde er auf Widerspruch warten, doch ich nickte schweigend und verschwand im Schlafzimmer.

Es war nicht viel, das ich packen musste - ich besaß nicht viel. So war ich auch vor Reyu fertig und packte noch etwas Proviant ein, falls wo auch immer er jetzt hin wollte weiter weg sein würde. Nach zehn Minuten kam er wieder. Ich fragte nicht, was er mit der Leiche angestellt hatte.

Für einige Sekunden standen wir in seiner Wohnung und sahen uns schweigend an. Sein Blick war verschlossen, die Gesichtszüge gut behütet. Er ließ sich nicht anmerken, was er dachte. “Vertraust du mir?”, fragte er dann leise.

Vertrauen. Einem lazalischen Rebellen, der sein Leben dem Kampf gegen mein Volk verschrieben hatte, der keine hundert Wörter am Tag sprach, der der größte Grimmvogel war, den Ilatharis je gesehen hatte.

Aber er war mein Grimmvogel.

“Voll und ganz”, erwiderte ich und ergriff die Hand, die er mir entgegenhielt. Ein flüchtiges Lächeln huschte über sein Gesicht, ein trauriges Lächeln, doch er hielt meine Hand sanft und beruhigend wie immer.

Inzwischen war die Stadt hauptsächlich in rotes Licht getaucht, als wir wieder aus der Haustür traten. Von der kurzen Auseinandersetzung zeugte nichts mehr als eine kleine Fläche von verwirbeltem Schnee, eine Unreinheit in den sonst ordentlich gezogenen Spuren der Fußgänger.

Hinter Reyus Rücken brachen die hellgrauen Flügel hervor. Wie immer stellte ich mich dicht vor ihn, spürte seinen Arm, der sich um meine Hüfte legte und mir ein seltsames Gefühl der Sicherheit gab, trotz der Situation.

"Danke", flüsterte er leise.

Lächelnd lehnte ich den Kopf an seine Brust. Ich fragte nicht nach, was er damit meinte. "Immer", erwiderte ich ebenso leise. “Aber wenn wir hier jetzt noch länger stehen, wird das nicht der einzige Soldat gewesen sein.”

Reyu seufzte leise, schloss auch den zweiten Arm um meinen Oberkörper und erhob uns mit einigen kräftigen Flügelschlägen in die Luft. Es war kalt genug, dass der Wind im Gesicht schmerzte und meine Zehen sehr bald taub wurden.

Doch mein Herz pochte in meiner Brust, betrog meine äußerliche Ruhe und offenbarte die Nervosität, die sich in mir breitmachte, als wir Reyus Wohnung, unser Zuhause hinter uns ließen.

Burning Jade in a Sea of AmberWo Geschichten leben. Entdecke jetzt