Die Zeit, die mir vor der Vierten Stunde noch blieb, nutzte ich, um mir einen groben Überblick über das Hospital zu verschaffen. Die Halle, die man entweder durch das Tor oder die zahlreichen Fenster von draußen betreten konnte, war mit Abstand der größte Raum. Am Boden zweigten davon drei Türen ab, die in kleinere Patientensäle führten.
An den Wänden befanden sich noch etwa ein halbes Dutzend weiterer Türen, von denen nur die Hälfte ungefähr mit Leitern ausgestattet war. Davon waren einige Strickleitern, die vom Absatz vor der Tür herunterhingen, oder gleich in die Wand eingelassene Sprossen, die entweder geschickt nachträglich eingebaut wurden oder dort tatsächlich schon immer gewesen waren.
Ich fand den Pausenraum für die Heiler, eine verschlossene Tür, die mich automatisch neugierig machte, und zwei weitere Räume, die wohl ebenfalls mit Patienten gefüllt waren. In einem Eck der Halle befand sich eine Falltür, die ohne eine Leiter oder Treppe Zugang zu einem dunklen Loch gewährte. Ich vermutete, dass sich in diesem Keller so etwas wie Verbandsvorräte und Leintücher zum Reinigen und Festbinden befanden.
Gerade wollte ich noch nach draußen und etwas frische Luft schnappen, als die Trommeln viermal den dumpfen Ton erklingen ließen, der die Vierte Stunde ankündigte. Seufzend blieb ich stehen und beschloss, dass ich lieber pünktlich war.
Wenn ich eines während meiner Zeit in Thazanur gelernt hatte, dann, dass Lazaliv viel Wert auf Hierarchie legten. Wer einen höheren Rang hatte, durfte auch anstandslos herumkommandieren - und nun hatte Reyu nunmal leider die Position meines Ausbilders, was ihm auch die Macht geben würde, mir den ganzen Tag irgendwelche ungeliebten Aufgaben zu delegieren.
Und so, wie ich ihn kannte, würde er diese Möglichkeiten voll ausreizen, nur um mich zu nerven.
Letztendlich war er es, der erst einige Minuten später wieder durch das aufgeklappte Fenster segelte und nach weiteren wenigen Sekunden vor mir landete. Abschätzig musterte er mich und ich hatte kurz das Bedürfnis, ihm einen Kommentar wegen seiner Unpünktlichkeit an den Kopf zu werfen.
Doch dann griff die Soldatin in mir durch und ich erwiderte den Blick ruhig, verschloss meine Abneigung gegen über ihm und allen anderen Lazaliv in meinem Inneren.
Wir beide hatten keine Lust darauf, den ganzen Tag miteinander zu verbringen. Doch irgendwie mussten wir uns arrangieren, ohne uns den Kopf abzureißen und ein erster Schritt war, ihn nicht gleich zu provozieren. Befehle ausführen. Wissen aufsaugen. Emotionen zurückhalten. Nichts, was ich nicht schon seit Jahren machte.
Nach einigen Sekunden der Stille drehte Reyu sich um und bedeutete mir mit einer kurzen Handgeste, ihm zu folgen.
“Hier in der Halle sind hauptsächlich Verwundete der Explosion”, begann er. “In den kleineren Räumen auch viele Infizierte, die mit Fieber und Schüttelfrost flachliegen. Die Krankheitswelle war gerade wieder am abflachen, jetzt mit den ganzen geschwächten Verletzten wird sie vermutlich wieder zunehmen.” Er deutete im Vorbeigehen auf eine junge Lazaliv mit einer Bandage quer über das Gesicht, die sich in einem Hustenanfall schüttelte.
“Wir haben beobachtet, dass diejenigen, die einmal krank waren, sich viel seltener ein zweites Mal anstecken als die, die es noch nicht hatten. Da ich mich noch nicht angesteckt habe und sowieso mehr Erfahrung mit Verletzungen habe, bin ich also hauptsächlich hier in der Halle. Ich nehme mal an, dass du dich damit auch am besten auskennst.”
Einen kurzen Blick schenkte er mir und ich nickte bestätigend, doch da sah er schon wieder nach vorne. Ich war überrascht davon, wie neutral er mir diese Dinge erzählte. So lange hatte er noch nie mit mir gesprochen, ohne mich zu beleidigen. Vermutlich hatte er insgesamt noch nie so lange mit mir gesprochen.
Vielleicht war er genauso wie ich zu dem Schluss gekommen, dass wir uns eher wieder aus dem Weg gehen konnten, wenn wir den Pflichtteil schnell erledigten.“Ab hier liegen die Patienten, um die ich mich kümmere”, erklärte er, als wir eine Stufe nach oben stiegen und uns nun eher im hinteren Teil der Halle befanden. Recht zielstrebig schlängelte er sich durch die Liegen bis ganz an die hintere Wand, wo scheinbar einige Betten mit Vorhängen getrennt waren, um den Verletzten etwas Privatsphäre zu geben. Auf dem Weg dorthin war ich damit beschäftigt, mir die Patienten anzusehen.
Einige hatten gequetschte Körperteile, vermutlich waren Gebäudeteile auf sie gefallen. Manche waren einfach so verletzt, womöglich genauso wie ich von Trümmerteilen getroffen. Nicht wenige schienen fiebrig schwach, als wären ihre Wunden entzündet.
Die meisten hatten Brandwunden, viele am ganzen Körper, einige nur am Oberkörper oder im Gesicht. Sie waren es, die es oft am schlimmsten erwischt hatte. Zwar hatte ich noch nie eine so schwerwiegende Verbrennung erlitten, doch konnte ich mich nur zu deutlich an die Zeit im Krieg erinnern, als die Lazaliv gerne brennende Felsbrocken vom Himmel geworfen hatten.
Brandwunden waren eine hässliche Angelegenheit. Schwerwiegende endeten nicht selten in einer Amputation und auch das nur, wenn sich die Verbrennung auf ein Körperteil beschränkte. War sogar die Haut am Oberkörper oder im Gesicht so tief verbrannt, dass sich das Gewebe schwarz färbte, gab es oft nichts mehr, was man tun konnte.
Ich schauderte und stellte fest, dass Reyu einige Meter weiter auf mich wartete. Wider Erwarten war sein Blick jedoch nicht ungeduldig. Eher, und ich brauchte einen Moment, um diese neue Emotion an ihm zu erkennen; mitleidig.
"Warte, bis du die wirklich Schlimmen siehst”, meinte er und deutete zu den Vorhängen.
Nun vorsichtig geworden kam ich wieder zu ihm und gemeinsam steuerten wir auf eines der verborgenen Betten zu. Irgendwo hatte Reyu eine Wasserkaraffe aufgegriffen, die er nun in der einen Hand hielt.
Mit der anderen schob er langsam den Vorhang zur Seite und ich wappnete mich für alles, was kommen könnte.
Dachte ich. Der Anblick, der sich mir bot, war nämlich um einiges schlimmer.
Es war ein Lazaliv, der dort auf der Liege lag, sein Alter unmöglich zu schätzen, denn beinahe sein ganzer Körper war eingewickelt in Verband, sein Gesicht bedeckt bis auf Mund und Augen und einen Schlitz zum Atmen. Seine Haare waren vollkommen abgebrannt und auch seine Flügel hatten nicht einmal annähernd noch die Hälfte ihrer dunkelgrauen Federn.
Zittriger, schneller Atem erfüllte den kleinen Raum zwischen den Vorhängen, die viel vom allgemeinen Geräuschpegel der Halle ausschlossen. Der Lazaliv hob den Kopf, als wir eintraten, und schwenkte ihn orientierungslos hin und her. Eines seiner Augen war getrübt und milchig weiß, das andere fixierte sich nun auf Reyu und mich.
Ich brachte kein Wort heraus und stand reglos da, als wäre das die erste schlimme, aussichtslose Verletzung, die ich sah. Angespannt beobachtete ich, wie Reyu sich neben das Bett kniete und die Wasserkaraffe abstellte.
“Darick, wir sind heute ausnahmsweise zu zweit hier, aber lass dich davon nicht stören. Ich gebe dir jetzt etwas zu trinken und dann behandle ich deine Wunden. Einverstanden?”
Fassungslos starrte ich Reyu an und vergaß einen Moment den Schrecken, der sich mir hier eröffnete. Nie hätte ich es für möglich gehalten, dass eine so sanfte, mitfühlende Stimme aus seinem Mund kommen könnte, dass die sonst viel zu harte Sprache der Lazaliv so weich klingen konnte. Mit sanften Bewegungen strich er über den Handrücken des Patienten und hielt gleichzeitig seine Hand.
“Es juckt”, flüsterte Darick angestrengt, seine Stimme rau und krächzend und so leise, dass ich die Worte kaum verstand. “Es juckt … so sehr. Ich muss kratzen … Bitte. Und ich habe … solchen Durst.” Er sog tief die Luft ein, sein Atem rasselnd und schwerfällig. Ruckartig versuchte er die Hand aus Reyus Griff zu ziehen, doch obwohl seine Finger sich nicht fest um die Hand des Verletzten schlossen, schien dieser unfähig, seine Hand zu heben.
Und erst jetzt sah ich den Grund dafür: Die Lederbänder, die sich jeweils um ein mit verbrannten Hautlappen bedecktes Handgelenk schlossen und dieses an die Liege fixierten.
Der Lazaliv war festgebunden wie ein Gefangener auf dem Folterbrett.
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Burning Jade in a Sea of Amber
Fantasía// Band 2 // Knirschende Knochen, sickerndes Blut und qualvoller Tod - nichts als Alltag im Leben von Reyu, der seit dem Ende des Krieges in der lazalischen Kleinstadt Zintabur als Heiler im Hospital arbeitet. Kaum einer kennt ihn als mehr als einen...