"Giftzwerg, bist du da?"
"Hörst du wohl auf, mich so zu nennen?", erwiderte ich und verdrehte die Augen, sah Reyu aber entgegen, als er durch die Regale im Medikamentenlager auf mich zu kam. Einige Tage waren seit der Feier vergangen, und ich sah ihm an, dass sein Rücken langsam wieder besser wurde, auch wenn er natürlich nie mit mir darüber sprechen würde. Ebenso hatten wir kein Wort über den Moment nach der Feier verloren und in stummem Einverständnis waren wir beide wieder auf Distanz voneinander gegangen. Inzwischen hatten wir aber dazu umgestellt, zusammen zum Hospital zu fliegen, was mir ziemlich viel Zeit einsparte. Obwohl seine körperliche Nähe jedes Mal etwas heikel war, weil wir beide uns lieber mit mindestens einem Meter mehr Abstand hatten.
"Du musst kurz für mich übernehmen", meinte Reyu und ignorierte damit meinen Einwand.
"Wieso?", fragte ich neugierig nach und beschloss, dass die Sache mit dem Giftzwerg bei seinem Dickkopf sowieso hoffnungslos war. Vielleicht musste ich einfach aufhören, darauf zu reagieren.
"Ein Freund muss kurz etwas mit mir besprechen. Es ist dringend."
"Weiß Zath, dass du während der Dienstzeit einfach verschwindest?"
"Nein." Reyu verdrehte die Augen. "Und du weißt, dass er das genau nimmt. Ich werde nicht länger als eine Viertelstunde brauchen."
"Es gibt so ein kleines Wort, das manche Leute sagen, wenn sie einen Gefallen wollen. Wenn ich mich recht erinnere, fängt es mit dem Buchstaben 'B' an."
"Allerliebste Valia, würdest du bitte bitte für eine halbe Stunde übernehmen? Ich wäre dir selbstverständlich zu ewigem Dank verpflichtet und würde dich bis an dein Lebensende verehren", säuselte er und schenkte mir ein falsches Lächeln. "Und ich mach dir die Liste nachher fertig."
"Dann gerne", erwiderte ich, trat auf ihn zu und wollte ihm eigentlich mit einem Grinsen die Wange tätscheln, doch seine Hand fing meine ab, bevor ich auch nur in die Nähe seines Gesichts kam. Sein tödlicher Blick ließ mich ihn anlächeln. "Ich bin bis D gekommen."
"D wie Dein Ernst?", fragte er trocken und warf einen Blick auf die Liste der Medikamentenbestände, die wir regelmäßig erneuern mussten, vor allem mit den Diebstählen, die immer noch ab und an stattfanden. Eine öde, unbeliebte Arbeit, die er mir jetzt mit Vergnügen abnehmen durfte.
"Anaya hat mich abgelenkt", erklärte ich schulterzuckend. "Ich dachte, das mit deinem Freund ist so dringend?"
"Ist es auch", murmelte er, drehte sich abrupt um und rauschte aus dem Lager.
Kopfschüttelnd lief ich ihm hinterher und machte mich an den Abstieg der Strickleiter. Was konnte ein Freund von Reyu so Wichtiges wollen, dass er sich vom Dienst entschuldigte? Zumal ich ihm bis jetzt nicht geglaubt hatte, dass er überhaupt zu einer solch zwischenmenschlichen Beziehung wie Freundschaft fähig war. Nachdenklich sah ich seinen hellgrauen Flügeln hinterher, die durch eine Hintertür das Hospital verließen. Neugier brannte mir unter den Nägeln.
Wieso eigentlich nicht?
In Anbetracht der Tatsache, dass Reyu alle Caraliv hasste, ging ich mal davon aus, dass sein Freund, oder wer auch immer etwas von ihm wollte, ebenfalls ein Lazaliv war. Was hieß, dass sie sich kaum auf dem Boden unterhalten würden.
Es war nicht einmal auffällig, dass ich mich von Ekran hoch in den Dachboden fliegen ließ, denn er war einer der Lazaliv, die kein Problem damit hatten, uns Caraliv mitzunehmen. Ich versicherte ihm, dass ich rufen würde, wenn ich wieder runter wollte, aber Reyu mir irgendeinen spezifischen Auftrag gegeben hatte und ich erstmal suchen müsste.
Von den Fenstern hier oben standen fast alle offen, damit die Lazaliv einen einfacheren Zugang hatten und nicht jedes Mal die schwere Luke öffnen und dafür Zath nach dem Schlüssel fragen mussten, die hinunter in die Halle führte. Da hier oben sowieso keine empfindlichen Dinge gelagert wurden, sondern nur so etwas wie Bettgestelle und Feuerholz, störten die offenen Fenster auch niemanden.
Im Gegenteil, sie ließen mich schon nach drei Schritten klar und deutlich Reyus Stimme vernehmen. Lautlos schlich ich mich neben das Fenster und lauschte den regelmäßigen Flügelschlägen.
"Nein, ich war heute noch nicht in der Stadt. Komm zum Punkt", erklang Reyus ungeduldige Stimme.
"Über Nacht sind an den Hauswänden Zeichnungen aufgetaucht." Eine unbekannte, ebenfalls männliche Stimme. Natürlich. Als würde Reyu sich mit Frauen abgeben.
"Aha."
"Das Wappen der Caraliv, aber in der alten Version und die Krone von einem Schwert durchtrennt und zerbrochen."
Überrascht sog ich die Luft ein, hoffte aber inständig, dass sie mich nicht gehört hatten. Als es einige Sekunden still war, begann mein Herz schon nervös zu flattern, doch schließlich fing Reyu wieder an zu sprechen.
"Bitte sag, dass du nicht den Befehl dafür gegeben hast, Tyrak. Das ist viel zu plump für die Rote Schar."
"Nein, habe ich eben nicht", sagte der Mann namens Tyrak und klang recht ungeduldig. "Das ist es ja. Wir waren es nicht. Die Schwarze Krone kann es aber ja wohl schlecht gewesen sein, eine caralische Rebellengruppe wird kaum ihr eigenes Wappen verunstalten. Es gibt aber sonst keine aktive Gruppe hier in Zintabur."
Mir wurde bewusst, dass mein Mund offen stand. Hastig schloss ich ihn wieder. Die Gedanken kreisten in meinem Kopf, so schnell, dass ich für einige Sekunden nichts vom Gespräch mitbekam.
Die Rote Schar. Wir.
Reyu war in der Roten Schar. Der stärksten lazalischen Rebellengruppe, von der man vermutete, dass sie ihren Hauptsitz in Zintabur hatte.
Nun, ich vermutete das jetzt nicht mehr. Wenn dieser Tyrak laut Reyu den Befehl dafür geben könnte, dann war er ja anscheinend der Anführer. Was auch hieß, dass Reyu in der Rangfolge nicht ganz unten stehen konnte.
Nervös verlagerte ich mein Gewicht von einem Fuß auf den anderen und lauschte wieder dem Gespräch.
"-nicht gut, wenn wir hier Konkurrenz bekommen."
"Das weiß ich auch", erwiderte Reyu seufzend. "Ich werde mich mal umhören. Aber ich muss wieder an die Arbeit."
"Ich verstehe immer noch nicht, wieso du noch hier arbeitest."
"Das ist mir klar. Du musst auch nicht alles verstehen", murmelte er etwas undeutlicher.
"Mit deinen Fähigkeiten könntest du doch so viel Spannenderes machen."
"Das hier zum Beispiel?", meinte Reyu und für den Bruchteil einer Sekunde fragte ich mich, was er damit meinte. Dann zuckte ich am ganzen Körper zusammen, als ein Wurfmesser nur Zentimeter von meinem Gesicht entfernt im Fensterrahmen stecken blieb. Die Klinge drang mit solcher Wucht ins Holz ein, dass einige Splitter durch die Luft schossen und das Heft leicht hin und her schwang.
Und dann erklang die kalte, beherrschte Stimme von Reyu, die keine Spur mehr der Nachdenklichkeit zeigte, die er gerade eben noch an den Tag gelegt hatte. Diese Stimme war es gewohnt, dass man ihren Befehlen Folge leistete.
"Zeig dich. Hände offen und nirgends in der Nähe einer Waffe. Das nächste trifft ins Auge."

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Burning Jade in a Sea of Amber
Fantasía// Band 2 // Knirschende Knochen, sickerndes Blut und qualvoller Tod - nichts als Alltag im Leben von Reyu, der seit dem Ende des Krieges in der lazalischen Kleinstadt Zintabur als Heiler im Hospital arbeitet. Kaum einer kennt ihn als mehr als einen...