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„Wo warst du?" Das war das Erste, was Liam sagte, als Louis das kleine Büro betrat, das sich in der Zentrale der Streetworker befand und das er sich mit Liam teilte. Von hier aus wurden die Sozialarbeiter ausgesandt und kümmerten sich um Jugendliche in Not. Außerdem gab es hier auch ein Krankenzimmer, wo man gestrandete und verletzte Straßenkinder erstversorgen konnte, denn es passierte häufig, dass sich Jemand an einer Glasscherbe oder einem Stück Metall verletzte. „Du hättest schon vor fünf Minuten hier sein müssen." sagte Liam und deutete auf die Uhr, die über der Tür hing, durch die Louis gerade getreten war. „Beruhig dich, ich bin doch jetzt da." erwiderte Louis entspannt und hängte seinen Rucksack an die Garderobe, bevor er sich an seinen chaotischen Schreibtisch setzte. Ihre Schreibtische standen einander direkt gegenüber und könnten gegensätzlicher nicht sein. Während bei Louis, alles ein wenig unordentlich war, war Liams Schreibtisch immer bestens organisiert und alles hatte seinen Platz. Louis drehte sich um und zog eine Akte aus dem Regal hinter sich, schlug sie auf und durchforstete die Liste, die sich darin befand. Auf dieser Liste waren alle Straßenkinder und Jugendliche unter 25 Jahren erfasst, sofern sie ihre Namen wussten. Es gab zu jeder Person einen kleinen Steckbrief, sodass man schnell das Wichtigste herausfinden konnte. Diese Listen wurden regelmäßig aktualisiert und an die Mitarbeiter verteilt, sodass jeder immer auf dem aktuellsten Stand der Dinge war. „Liam, sag mal, kennst du einen Punk, der Zayn heißt?" fragte Louis, nachdem er den Jungen auf der Liste nicht gleich gefunden hatte. „Klar. Wieso willst du das wissen?" fragte Liam und sah von den Kugelschreibern auf, die er gerade auf Tauglichkeit überprüfte und die, die funktionierten, zurück in den Stiftebecher stellte. Louis berichtete ihm von seiner Beobachtung am Trafalgar Square, dem Zusammentreffen mit Hazza und Zayn und davon, dass Zayn Liam als „Arschloch" bezeichnet hatte. Daraufhin zuckte Liam nur die Schultern: „Er mag mich nicht, weil ich Niall von der Straße geholt habe. Das war vor ein paar Wochen." - „Niall? Niall Horan? Der kleine Ire?" - „Jep. Er hat mit Harry und Zayn zusammen gelebt. Die waren wie die 3 Musketiere – haben alles zusammen gemacht. Aber Niall hatte genug Mut, alles hinter sich zu lassen und ein neues Leben anzufangen, also kam er mit mir mit und hat die anderen Beiden zurückgelassen. Ich denke Zayn ist immer noch sauer, weil ich ihm seinen besten Freund weggenommen habe." Nun verstand Louis natürlich, wieso Zayn nicht so gut auf Liam zu sprechen war und jetzt wusste er auch, wie Hazza mit richtigem Namen hieß. Auch Niall hatte Louis kennengelernt: er war seit einigen Wochen hier im Heim, das provisorisch an die Institution angeschlossen war. Er war unter ärztlicher Beobachtung und langsam ging es dem jungen Mann besser. Soweit Louis wusste, war er abhängig und hatte auf der Straße jahrelang Klebstoff geschnüffelt, wovon er nun loskommen wollte. Liam war für ihn zuständig, weil er es war, der ihn von der Straße geholt hatte und ging jeden Abend für eine Stunde zu Niall und seinen anderen Schützlingen, um mit ihnen zu sprechen, oder Spiele zu spielen. Das Ziel, die Straßenkinder wieder in die Gesellschaft zu integrieren, erreichte man schneller, wenn eine persönliche Bindung zwischen den Betreuern und den Jugendlichen bestand.

„So, ich mach dann mal Feierabend." sagte Liam, stand auf, schob den Stuhl an den Schreibtisch heran und nahm seine Lederjacke vom Haken an der Tür. Louis nickte nur und legte eine neue Akte über Harry an, die er mit allen Informationen zu ihm füllte, ihm ein Aktenzeichen zuordnete und ihn in seinen Aufgabenbereich übernahm, denn soweit er aus den Unterlagen sehen konnte, hatte sich ihm noch Niemand seiner Kollegen angenommen. Er war fast fertig, als es an der Tür klopfte und sie aufflog, noch bevor er etwas hatte sagen können. Seine Kollegin Eleanor streckte den Kopf herein. Sie wirkte gestresst und schien es eilig zu haben: „Lou, ich brauch deine Hilfe, wir haben einen Notfall! Beeil dich!" Sofort ließ er alles stehen und liegen, sprang auf und lief ihr nach, den schäbigen Flur entlang und die Treppe hinunter, bis sie am Haupteingang angekommen waren. Schon von Weitem konnte Louis die zusammen gesunkene Gestalt erkennen, die wenige Meter von der Tür entfernt auf dem Bürgersteig lag und sich vor Krämpfen zu winden schien. „Es ist Rebecca." sagte Eleanor und ging neben dem Mädchen auf die Knie. Der Geruch nach ungewaschener Haut, Schweiß und Erbrochenem schlug Louis entgegen, als er sich ebenfalls hinkniete und er atmete automatisch durch den Mund weiter, um sich nicht ebenfalls übergeben zu müssen. „Sie ist eine von meinen Schützlingen und ich hab sie schon seit Wochen nicht mehr gesehen." sagte Eleanor verzweifelt und packte das Mädchen an den Füßen, während Louis sie unter den Armen packte. Gemeinsam hoben sie sie hoch und trugen sie ins Haus. „Glaubst du, sie hat ne Überdosis von irgendwas?" fragte Louis. „Sie ist heroinabhängig, aber es sieht eher so aus, als hätte sie schon eine ganze Weile nichts mehr genommen, wenn du mich fragst." erwiderte Eleanor und Louis musste ihr recht geben.

Die Symptome, die das Mädchen aufwies waren eindeutig die, eines Entzugs.

Sie waren gerade auf halbem Weg über den Flur zum Krankenzimmer, als sie erneut würgte und sich übergab. Er konnte sich gerade noch zurückhalten, sie nicht instinktiv loszulassen und so lief ihm das Erbrochene über die Hände, doch das war jetzt egal. Louis hatte in den letzten Jahren weit schlimmere Dinge erlebt, als das. Im Krankenzimmer beförderten sie das Mädchen ein wenig unsanft auf die Bahre, die im Zimmer stand und die mit Papiertüchern abgedeckt war. In diesem Fall sehr sinnvoll. Eleanor holte sich zwei Handschuhe und begann damit, Rebecca zu untersuchen. Bevor sie zur Streetworkerin umgeschult hatte, war sie beim Rettungsdienst gewesen und konnte perfekt Erste Hilfe leisten.

„Rebecca, schau mich an!" sagte sie laut und schob ihr die Augenlider hoch, um ihre Pupillen anzusehen. Louis senkte den Blick und sah, dass sie stark geweitet waren, während das Mädchen immer noch würgte und sich völlig unkoordiniert bewegte. „Wir müssen sie ausziehen um sicherzugehen, dass sie nicht verletzt ist..." Gesagt, getan. Zusammen zogen sie dem abgemagerten Mädchen die verdreckten Klamotten aus und warfen sie in einen Plastiksack.

Sie war total abgemagert, hatte blaue Flecken am ganzen Körper und ihre Arme waren so dünn, dass Louis sicher war, sie mit einer Hand locker umschließen zu können. Eleanor untersuchte sie weiter, während Louis sich die Hände wusch und die Klamotten mitnahm, um sie in die Waschmaschine zu stecken. Rebecca würde ab heute hier im Heim bleiben, ob sie wollte oder nicht, denn so konnte man sie nicht mehr alleine lassen.

Als Louis gegen 20 Uhr die Tür hinter sich zuzog und sich auf den Weg nach Hause machte, waren seine Gedanken beim Abendessen, das er gleich kochen wollte. Mit der Zeit hatte er gelernt, die Probleme der Jugendlichen nicht mit nach Hause zu nehmen, denn anders würde er den Beruf nicht lange aushalten.

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