„Morgen Louis." grüßte ihn Liam der, wie immer, vor Louis im Büro war und gerade sein Mittagessen im kleinen Kühlschrank verstaute. Als Harry hinter ihm ins Zimmer kam, machte Liam große Augen. Zwar kannte er Harry nicht, doch anhand dessen, was Louis ihm schon erzählt hatte war es ganz offensichtlich, dass der blasse Junge, der in ihrem Büro stand, nur Harry sein konnte. „Hallo Harry, ich bin Liam." sagte er freundlich und streckte ihm die Hand hin, die der Punk nur ansah, jedoch selbst keinerlei Anstalten machte, sie zu ergreifen. „Ist schon gut Liam, er ist heute nicht sonderlich gut drauf." sagte Louis, hängte seine Jacke auf und wandte sich an Harry: „So, dann zeige ich dir mal dein Zimmer. Komm mit." Er verließ das Büro wieder und Harry folgte ihm mit Abstand, während Liam immer noch ein wenig verdutzt da stand.
Es ging die Treppe hoch und in die WG. Weil die ersten Zimmer schon besetzt waren, musste Louis Harry durch den kompletten Flur bis an dessen Ende führen, wo sich ein schmales Zimmer befand, das noch frei war. „So, hier ist dein Zimmer, du kannst dich dann schon mal einrichten..." sagte Louis, machte eine ausladende Bewegung mit dem Arm, bis ihm einfiel, dass Harry seine ganzen Sachen ja bei Zayn zurückgelassen hatte und er ebbte ab: „naja, oder dich mal umsehen." Harry warf ihm einen ernsten und leicht spöttischen Gesichtsausdruck zu und Louis hatte für einen Moment das Gefühl, dass er sich nur mühsam einen bissigen Kommentar verkneifen konnte. „Ich lass dich mal allein." sagte Louis und wollte wieder hinaus auf den Flur gehen, als Harry tatsächlich etwas sagte: „Du lässt mich jetzt hier alleine? Ich dachte du hilfst mir..."- „Das tu ich auch, aber ich muss erst einmal deine Akte wieder herauskramen und die Zeit wirst du mir ja wohl noch lassen, oder?" So patzig hatte er gar nicht klingen wollen, doch es ärgerte ihn, dass Harry so ungeduldig war – immerhin war er es gewesen, der sich tagelang nicht hatte blicken lassen und jetzt sollte alles ganz schnell gehen? Vielleicht, oder mit ziemlicher Sicherheit, war Harrys Ungeduld eher auf das Fehlen von Rauschmitteln in seinem Blut zurück zu führen.
„Also was ist jetzt? Schaffst du es, ein paar Minuten hier alleine zu sein, ohne irgendwas anzustellen?" Harry nickte, zuckte gleichzeitig mit den Schultern und ließ sich dann seitlich auf sein Bett fallen, dass die Stahlfedern der Matratze knallten. „Gut, dann bis gleich."
Mit schnellen Schritten ging Louis die Treppe wieder hinunter ins Büro. Dort zog er den Aktenschrank auf und begann damit, die Schublade mit den stillgelegten Fällen nach Harrys Unterlagen zu durchsuchen. Der schmale Ordner befand sich noch weit vorne, sodass Louis ihn rasch gefunden und herausgezogen hatte. Er warf ihn auf seinen Schreibtisch, zog ein frisches Papier heran und schrieb unter das aktuelle Datum
„aufgenommen in Hilfswerks WG, betreut von Louis William Tomlinson"
Nachdem er das Papier wieder abgeheftet hatte, verstaute Louis den Schnellhefter wieder in seinem Schrank und stand auf.
„Harry bleibt?" fragte Liam neugierig, der die Akte natürlich erkannt hatte und es hörte sich an, als würde er sich wirklich darüber freuen, dass der Junge ganz offensichtlich doch endlich selbst eingestanden hatte, dass er Hilfe brauchte. „Ja, er bleibt – aber er ist nicht sonderlich gut drauf. Ich hab seinen letzten Drogenvorrat heimlich vernichtet und er ist jetzt schon ziemlich auf Entzug und dementsprechend schlecht gelaunt." -
„Aber du denkst dran, dass du trotzdem die Erstuntersuchung machst, oder soll ich das lieber übernehmen?" fragte Liam freundlich.
Alle Neuankömmlinge wurden an ihrem ersten Tag komplett untersucht, Blutabnahme inklusive. Normalerweise war so etwas die Aufgabe eines Arztes, aber weil die Teenager häufig niemandem außer ihrem Betreuer gut genug vertrauten, hatte das Hilfswerk eine Sondergenemigung bekommen und konnte die Untersuchung selbst durchführen. „Nee, ich mache das schon selbst. Ich glaube, Harry vertraut mir." sagte Louis und stand auf, um das Zimmer wieder zu verlassen. Es war nicht gut, Harry zu lange allein zu lassen – womöglich bekam er noch Angst vor der eigenen Courage und verschwand wieder Hals über Kopf, wie beim letzten Mal.
Erleichtert stellte Louis fest, als er das kleine Zimmer wieder betrat, dass Harry noch immer auf seinem Bett saß und sogar Gesellschaft bekommen hatte. Niall saß bei ihm und redete wie wild auf ihn ein. Harry selbst machte jedoch überhaupt nicht den Eindruck, als würde er sich freuen, seinen ehemaligen Mitkämpfer wieder zu sehen. Er starrte geradeaus ins Nichst, hatte die Zähne zusammengebissen und die Finger krampften sich unkontrolliert in das Bettlaken. „Es ist wirklich gut, dass du dich jetzt hergetraut hast..." sagte Niall gerade, als Louis eintrat und grinste ihn glücklich an, als er ihn sah. „Hallo Niall, schön, dass du Harry Gesellschaft geleistet hast." sagte Louis und setzte hinterher: „Ich muss dich jetzt aber bitten, rauszugehen. Du weißt ja, was jetzt kommt und dafür brauchen wir keine Gesellschaft. Du kannst ja nacher noch einmal vorbeikommen." Niall nickte und stand auf, nicht ohne Harry vorher noch glücklich durch die Haare zu wuscheln. „Man, lass das. Du mit deiner beschissenen guten Laune." zischte Harry Niall an, der nur gleichgültig die Schultern zuckte und dann das Zimmer verließ. Er nahm Harrys Angriff nicht persönlich, was wirklich gut war, denn im Moment war der Punk nicht ganz bei Verstand. „So Harry, kommst du bitte mit runter, ich muss die Erstuntersuchung machen." bat Louis ihn und versuchte so sachlich wie möglich zu bleiben und dabei die Tatsache auszublenden, dass sie die letzte Nacht nebeneinander in seinem Bett geschlafen hatten. Stattdessen blickte er Harry auffordernd an und nickte zur Tür: „Geht's dir besser?"
„Hmpf."
„Prima, dann kannst du ja aufstehen und wir können runter ins Krankenzimmer." Louis drehte sich kurzerhand um und verließ das Zimmer. Er hörte das Bett knarzen und wusste, dass Harry tatsächlich aufgestanden und ihm gefolgt war. „Was ist das für ne Untersuchung? Wenn da irgendein alter Arzt an mir herumfummelt, dann -" motzte Harry hinter ihm und Louis seufzte: „Ich werde dich untersuchen, also keine Angst. Das muss aber leider sein, damit wir deine Entwicklung festhalten und dokumentieren können." Sie stiegen die Treppe hinunter ins Erdgeschoss und Harry hatte die ganze Zeit über die Arme vor der Brust verschränkt, das konnte Louis im Augenwinkel gut erkennen.
Das Krankenzimmer befand sich im Erdgeschoss und war zum Glück gerade nicht belegt. „Komm rein." sagte Louis, rollte eine Bahn Papier auf der Bahre aus und zog sich Handschuhe an, dann drehte er sich zu Harry um: „Los, zieh dich bitte aus." forderte er den Punk auf, dem offenbar kein Gegenargument einfiel und er zog sich das T-Shirt über den Kopf. Mit ausdruckslosem Gesicht sah er Louis an. Lag da etwa Unsicherheit in seinem Blick? Er griff nach einem Stetoskop und drückte es auf Harrys Rücken um ihn abzuhören. Seine Atmung war gut, kein Rasseln oder Keuchen, was Louis erleichtert feststellte. Danach leuchtete er ihm in die Augen, den Mund und die Ohren, tastete die Lymphknoten ab, die ein wenig geschwollen waren und sah sich die Arme und den dünnen Oberkörper an. „Wie groß bist du, Harry?" fragte er und sah von seinem Klemmbrett auf, nachdem er sich alles notiert hatte.
„Ich glaube 1.70m."
„Und dein Gewicht?" -
„Woher soll ich das wissen? Auf der Straße wiegt man sich nicht so häufig, weißt du?"
Louis überhörte den bissigen Unterton in Harrys Stimme und deutete grinsend auf die Waage, die in der Ecke stand. „Wie gut, dass wir hier über ein Modell verfügen, meinst du nicht? Zieh dich bitte aus und stell'dich drauf." wies Louis ihn an. „Und wenn ich nicht will?" fragte Harry angriffslustig, es hätte spaßig klingen können, doch Louis wusste sofort, dass es Harry bitter ernst war, doch er blieb ruhig: „Du hast heute morgen schon den Kürzeren gezogen, Freundchen. Vergiss das nicht." Ohne darauf etwas zu erwidern, stand Harry auf, schnürte seine Stiefel auf, trat sie von den Füßen und öffnete dann die Knöpfe seiner Jeans. Er bückte sich, um sie abzustreifen und als er sich wieder aufrichtete, wankte er und geriet für einen Moment ins Taumeln. Instinktiv griff Louis ihn an beiden Schultern und hielt ihn fest, damit er nicht umkippte. Harry wirkte völlig benommen, als sie sich so nahe gegenüber standen und er Louis in die Augen sah. Der Streetworker erwiderte den Blick und wusste, dass er alles tun würde, um diesem Jungen zu helfen. Am Liebsten hätte er etwas Tröstendes oder ermutigendes gesagt, damit Harry wusste, dass er für ihn da war, doch als er den Mund öffnete, schaltete sich sein Gehirn wieder ein und er sagte etwas anderes.
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Way Out
FanfictionLondon - Touristenmagnet und schillernde Metropole. Aber auch Heimat von Hoffnung und Hilflosigkeit. Louis arbeitet als Streetworker und hat es sich zur Aufgabe gemacht, Jugendlichen, die auf der Straße leben, eine neue Perspektive zu bieten. Harr...