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„Wie kam es dazu, dass du auf der Straße gelandet bist?" fragte Louis und nickte Harry zu, der mit den Schultern zuckte und gar nichts sagte. Natürlich. Wieso sollte er das auch tun? Louis hatte ihn gestern bei einem Diebstahl erwischt und ihm heute ein Sandwich und einen Tee spendiert. Das kam ihm ganz offensichtlich sehr ungewöhnlich vor und es war klar, dass er nicht so schnell Vertrauen gefasst hatte, um Louis seine Lebensgeschichte zu erzählen. Louis war klar, dass er heute bei Harry auf Granit beißen würde, was weiter Informationen zu seiner Person angingen und schwenkte um: „Also, wenn du irgendwas brauchst. Medizin, eine heiße Dusche oder Jemanden, mit dem du reden kannst....unsere Türen sind offen. Komm einfach vorbei, wenn du willst. Ich gebe dir nochmal meine Karte, ich denke Zayn hat die von gestern sicherlich weggeworfen." Er reichte Harry noch einmal die Karte mit der Adresse des Hilfswerks und er nahm sie mit einem leichten Lächeln entgegen um sie einzustecken. Dann legte er wieder beide Hände um den Becher und schob ihn von sich: „Danke für den Tee...tschüss." sagte er leise, ohne Louis dabei anzusehen, dann zog er sich rasch die Kapuze über den Kopf und verließ den Kiosk. Es enttäuschte Louis keineswegs, dass Harry einfach so gegangen war. Im Gegenteil: er war ganz froh, heute mit ihm so weit gekommen zu sein, dass er wenigstens mit ihm gesprochen hatte. Straßenkinder waren häufig verschlossen und Fremden gegenüber sehr misstrauisch, weil sie Angst hatten, man könnte sie wieder zu ihren Familien zurückbringen und das wollte keiner von ihnen, denn meistens hatten sie ihre Gründe, weshalb sie ihr Zuhause verlassen hatten und das Leben auf der Straße dem Zuhause vorzogen.

Louis trank seinen Kaffee noch aus, bezahlte und machte sich dann auf den Rückweg. Obwohl es Juni war fror er und war erleichtert, hinunter in die wärmenden Tunnel der Tube zu kommen, die ihn zurück zum Büro brachte.

Liam saß hinter seinem Schreibtisch, als er den Raum betrat und klappte gerade mit glücklicher Miene eine Akte zu. Bevor Louis fragen konnte, was ihn so freute, sagte er: „Niall hat mir heute in der Therapiestunde erzählt, dass heute der erste Tag war, an dem er nicht an seine Droge gedacht hat. Ist das nicht toll? Und er will morgen am Unterricht teilnehmen." Das war wirklich ein großer Fortschritt und bedeutete, dass Niall langsam aber sicher seine Prioritäten setzte. Hier im Haus hatten die ehemaligen Straßenkinder die Möglichkeit, Unterricht zu bekommen. Dieser Unterricht war nicht der, den man in den normalen Schulen bekam, sondern konzentrierte sich auf Dinge, die man im Alltag brauchte und die den jungen Menschen dabei helfen sollten, sich später besser im Leben zurecht zu finden. Man lernte, Bewerbungen zu schreiben, mit dem Computer zu arbeiten und gesund zu kochen. Wer sich dazu entschied, mitzumachen, wollte meistens sein Leben wieder selbst in die Hand nehmen.

Nachdem er noch ein wenig Ordnung in das Chaos auf seinem Schreibtisch gebracht hatte, wohl wissend, dass es nicht lange anhalten würde, machte sich Louis auf den Weg in den zweiten Stock des Gebäudes. Dort befand sich die Wohngemeinschaft der Jugendlichen, die sich dazu entschieden hatten, ihr Leben auf der Straße hinter sich zu lassen. Die Institution, für die Louis arbeitete, hatte mehrere Häuser in London angemietet und in jedem befand sich eine Wohngemeinschaft, die über alles verfügte, was man zum Leben so brauchte. Die Sozialarbeiter richteten alles immer selbst ein und die Möbel, sowie das gesamte Inventar erhielten sie über Spenden, sodass meist alles ziemlich zusammengewürfelt war. Doch das kümmerte Niemanden. Die Jugendlichen waren dafür verantwortlich, ihr neues Zuhause selbst in Ordnung zu halten, was nach einigen Wochen meist auch sehr gut funktionierte, wodurch man kaum auf die Idee kommen würde, dass die ehemalige Kleinkriminelle und Junkies lebten. Der einzige Hinweis darauf, war dass die Messer und Scheren, die sich in der Küchenschublade befanden, mit Metallketten festgemacht waren, sodass sie nur herausgenommen werden konnten, um Gemüse auf der Arbeitsplatte schneiden zu können. Durch die Ketten wurde verhindert, dass Niemand mit den Messern auf die anderen Mitbewohner losgehen konnte. Leider passierte es ab und an, dass Jemand ausrastete, wenn die Entzugserscheinungen oder der innere Druck zu groß wurden. Für solche Fälle gab es gegenüber der WG ein kleines Krankenzimmer, wo man sich abregen konnte.

Glücklicherweise hatte Louis noch keinen seiner Schützlinge dort einsperren müssen.

Er betrat die WG. Es war still und er klopfte leise an die erste Tür, hinter der sich das Zimmer einer jungen Frau befand. Ihr Name war Perrie und sie hatte zwei Jahre lang auf der Straße gelebt, nachdem sie Zuhause geschlagen und missbraucht worden war. Dort war sie immer weiter abgerutscht, hatte Haschisch geraucht und Tabletten genommen. Mit Sicherheit wäre es ihn noch schlimmer gegangen, wenn Louis sie nicht irgendwann gefunden und hergebracht hätte. Das war jetzt 8 Wochen her und es ging ihr schon sehr viel besser. Sie hatte wieder eine gesunde Gesichtsfarbe bekommen und auch ein wenig Gewicht zugelegt. Ihre körperlichen Wunden waren verheilt, doch die Seelischen würden noch Zeit brauchen.

Sie saß auf ihrem Bett, als er eintrat und schrieb in einem Notizbuch, das sie immer bei sich trug, seit sie hier war. Louis hatte ihr geraten, ihre Geschichte aufzuschreiben und das schien bei ihr besser zu wirken, als eine Therapie. „Ich bin gleich fertig..." sagte sie langsam und konzentriert, schrieb den letzten Satz zu Ende und klappte das Buch zu, bevor sie ihn ansah.

Louis lächelte sie an und deutete auf das Bett: „Kann ich mich setzen?" - „Klar." sagte sie und rutschte ein wenig beiseite und er nahm neben ihr Platz. „Wie geht's dir?" fragte er Perrie und sie lächelte ihn an, deutete auf ihr Buch und sagte: „Gut. Ich hab meine Geschichte schon fast zur Hälfte aufgeschrieben." - „Wow, ich bin stolz auf dich. Du solltest es veröffentlichen, wenn es fertig ist." Ein wenig schüchtern sah sie ihn an und schien nicht glauben zu wollen, dass er ihr wirklich zutraute, ein Buch zu veröffentlichen, doch Louis war fest davon überzeugt, dass es Abnehmer für diese Geschichte geben würde. „Es ist lieb von dir, dass du an mich glaubst." sagte sie leise und senkte den Blick. Louis legte ihr den Arm um die Schulter und drückte sie an sich. Er war der Einzige, dem Perrie vertraute.

Nachdem er sich noch eine Weile mit ihr unterhalten und sie dazu ermutigt hatte, ein wenig mehr an sich selbst zu glauben, klopfte er bei Niall an. Das Geklimper hörte auf und der Ire bat ihn herein. Der blonde Junge, saß auf dem Holzfußboden im Schneidersitz und hatte eine zerkratzte Gitarre in der Hand. Es war der Einzige Wertgegenstand, den er auf der Straße besessen und mit dem er sich ein wenig Geld verdient hatte.

Louis kannte ihn nicht sonderlich gut, schließlich war Liam sein Betreuer, doch er wollte ihn ein wenig über Harry und Zayn ausfragen, schließlich hatten die Drei mal zusammen gelebt. „Ich hab Harry heute getroffen." sagte er, als er sich zu Niall gesetzt hatte, dessen Gesicht sich aufhellte: „Oh. Geht es ihm gut?" fragte er sofort und fixierte Louis mit seinen hellen Augen. „Ich weiß nicht genau. Es schien so, als sei er erkältet. Seine Nase lief ziemlich und er hat sie ständig hochgezogen. " - „Oh, nein das ist keine Erkältung." sagte Niall und schien kurz zu überlegen, ob er weitersprechen sollte, entschied sich dann aber dafür: „Harry ist heroinabhängig und eine laufende Nase bekommt man, wenn man es schnupft." Louis seufzte: das hatte er nicht erwartet. Harry war noch so jung und hatte auf ihn optisch gar nicht den Eindruck gemacht, heroinabhängig zu sein, denn er wirkte noch recht gefasst. Sie schwiegen einen Moment, dann sagte Niall fast schon bettelnd: „Du musst ihm helfen. Und Zayn auch. Der nimmt auch Heroin, aber er spritzt es sich und das ist noch viel schlimmer. Bitte, Louis, die Beiden sind meine besten Freunde. Du musst alles versuchen, um sie von der Straße zu bekommen." Niall sah ihn an und in seinen Augen hatten sich Tränen gesammelt, so nah ging ihm das Schicksal seiner Freunde offenbar. Rasch wischte er sich mit der Hand darüber und schluckte, wandte den Blick ab, als hoffte er, Louis hätte die Tränen nicht gesehen. „Hör zu Niall. Ich bin schon an den Beiden dran, aber sie trauen mir nicht und ich weiß, dass Zayn sehr böse ist, dass du sie verlassen hast. Du kennst sie: sag mir was ich tun soll, um ihr Vertrauen zu gewinnen." bat Louis ihn und der Ire zuckte mit den Schultern: „Ich weiß nicht, wie du das erreichen kannst. Ich denke das Beste wird sein, mit Harry zu sprechen. Er mag andere Menschen, wohingegen Zayn einfach nur verbittert ist und aggressiv auf fast jeden reagiert. Es ist sehr schwer, an ihn heran zu kommen." - „Okay, ich gebe mein Bestes. Kannst du mir einige Orte sagen, wo sie sich tagsüber häufig aufhalten?"

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