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Er bekam Harry nicht zu sehen. Was vielleicht auch besser war, denn nachdem Louis zwei Glühweine getrunken hatte, war er sich nicht mehr ganz sicher, ob er entsprechend reagiert hätte, wenn er den Lockenkopf noch gesehen hätte.

Das Essen war hervorragend und sie unterhielten sich nett miteinander. Liam erkundigte sich danach, wie es in der Suchtstelle lief und es schien ihm wirklich wichtig zu sein, dass Louis sich wohlfühlte und es ihm – zumindest beruflich – gut ging.

Grimmy, der von allen Kollegen am Wenigsten getrunken hatte, da er heute die Aufsicht für Harry und Zayn zugewiesen bekommen hatte, saß neben Louis und berichtete ihm von der Reha der beiden Punks.

Laut Nick hatte Harry angefangen, am Schulunterricht teilzunehmen und machte sich wirklich gut, während Zayn noch ab und zu kleinere Rückschläge erlitt, die sich aber meist in Wutanfällen äußerten. Die Punks waren mehrmals von einem Arzt untersucht worden und soweit hatten sich ihre Körper von den Drogen erholt. Zayn bekam Medikamente für sein HIV und hatte in den letzten Wochen drei Kilogramm Gewicht zugelegt, was zur Folge hatte, dass er – laut Eleanor – nicht mehr wie ein Gespenst aussah. „Harry boxt jetzt dreimal die Woche mit mir." erzählte Grimmy und nickte begeistert.

„Er hat richtig Mukkis bekommen, das solltest du mal...naja also er ist auf jeden Fall nicht mehr ganz so schmächtig..." lenkte er schnell ein, nachdem Liam ihm einen warnenden Blick zugeworfen hatte. „Wie geht es ihm bezüglich der Trennung?" fragte Louis und wollte diese Frage am Liebsten wieder zurücknehmen. Er hoffte, dass Harry es verkraftet hatte, doch gleichzeitig wollte er auch hören, dass der Punk noch immer an ihm hin. Genau wie er. Grimmy griff über den Tisch und zog ein Pfännchen aus dem Racletteofen, kippte sich den Inhalt auf den Teller und sagte: „Er redet nicht darüber. Ich mache mit ihm auch die Gesprächstherapie, aber er lässt kein Wort über dich fallen. Wenn ich mich abends von ihm verabschiede, dann wirkt er immer sehr geknickt und ich glaube, dass es daran liegt, dass er dann keine Ablenkung mehr hat und an dich denken muss. Er scheint auch nicht sonderlich gut zu schlafen. Zumindest hat Eleanor mir gesagt, dass Zayn ihn wohl ab und zu nachts hört...er weint sich in den Schlaf Louis. Ich würde ihm so gerne helfen, aber ich weiß, dass ich nicht du bin und deswegen nicht genug tun kann." Nick seufzte schwer und sah ein wenig traurig auf den Käse auf seinem Teller, der gerade in alle Richtungen dahinschmolz. „Ich würde ja gerne zu ihm hochgehen..." sprach Louis seinen geheimen Wunsch aus und Nick schüttelte sofort den Kopf: „Bitte tu das nicht. Nachher denkt er noch, du kommst zurück, macht sich Hoffnungen und wenn die zerstört werden, geht das ganze Drama wieder von vorne los...bitte Louis, das tut Harry nicht gut." - „Ja, du hast ja recht. Es ist nur so, dass er mir auch so schrecklich fehlt." Der Glühwein machte Louis sentimental und am Liebsten hätte er Grimmy sein ganzes Herz ausgeschüttet, doch er besann sich gerade noch rechtzeitig. Das ging Niemanden etwas an - außer vielleicht Eleanor und die wusste sowieso schon Bescheid. „Ich wünschte, ich würde ihn irgendwann wiedersehen...vielleicht, wenn er komplett geheilt ist. Die Frage ist natürlich, ob er mich dann noch haben will." nuschelte Louis vor sich hin und legte sich einen Brokkoli auf das kleine Pfännchen, schob es in den Racletteofen und wünschte sich einfach, dass die Tür aufging und Harry zufällig hereinstolperte.

Doch Harry tauchte nicht auf. Wieso hätte er das auch tun sollen? Es war schließlich eine kleine Weihnachtsfeier der Kollegen. Nachdem Louis einen Blick auf die Uhr geworfen und festgestellt hatte, dass die Bahnen nur noch etwa 30 Minuten lag fuhren, machte er sich ziemlich überstürzt auf den Weg. Er bedankte und verabschiedete sich bei allen, zog sich dann seinen Parka wieder an und verließ das Hilfswerk wieder. Als er hinaus auf die Straße trat hatte es angefangen zu schneien, was ihm ein Lächeln aufs Gesicht zauberte. Schnee an Weihnachten war einfach immer noch eine ziemlich kitschige, aber romantische Sache und Louis genoss den Anblick, der Flocken, die London langsam mit einer dünnen Schicht Puderzucker überzogen.

Als er Zuhause ankam, war er ziemlich durchgefroren und schälte sich schnell aus den, vom Schnee feuchten, Klamotten. Der Schnee war kein trockener Pulverschnee gewesen, sondern schwer und nass und es war fast noch schlimmer, als im Londoner Regen durch die Straßen zu gehen, der einen ebenfalls binnen Sekunden durchnässen konnte, obwohl er aussah, wie ein feiner Niesel. Louis ging ins Badezimmer, um sich unter der Dusche ein wenig aufzuwärmen, dann fiel ihm ein, dass Nachts das heiße Wasser ja abgestellt wurde – was ihn wieder an Harry erinnerte, der bei ihm einmal hatte duschen wollen. Er schlüpfte in dicke Socken, einen Bademantel und stellte den Wasserkocher an.

Irgendwo hatte er doch mal eine Wärmflasche gehabt? Er kramte im Schrank herum und fand sie schließlich ganz hinten, hinter den Kochtöpfen. Das Ding war richtig hässlich, da es einen gestrickten Überzug in Rentier-Optik hatte, doch das war Louis jetzt egal und er füllte sie mit heißem Wasser, schraubte den Verschluss zu und tappte damit zurück in sein Zimmer.

Scheiße er vermisste Harry so sehr. Die Vorstellung, dass sie sich heute nur wenige Meter voneinander entfernt aufgehalten hatte, im selben Haus gewesen waren ohne einander zu Gesicht zu bekommen, frustrierte ihn. Wieso hatte er sich nicht einmal auf die Toilette verdrückt und war kurz in die WG gegangen?

Harry hätte sich bestimmt gefreut und wäre ihm um den Hals gefallen. Sie hätten sich geküsst, der Lockenkopf hätte gesagt, dass er nicht mehr böse war und sie hätte vielleicht sogar zusammen geschlafen.

Hätten sie das wirklich?

Vielleicht wollte Harry ihn wirklich nicht mehr sehen. Vielleicht hatte er sich in den letzten 98 Tagen so gut mit Grimmy angefreundet, dass er Louis einfach verdrängt hatte. Oder es lief vielleicht schon was mit seinem neuen Betreuer. Bei dem Gedanken daran wurde Louis fast schlecht und er krallte die Finger in den weichen Bezug der Wärmflasche, während er in sein Bett kletterte und sich die Decke bis an die Nase hinaufzog. Louis war sich ziemlich sicher, dass er es endgültig versaut hatte. Spätestens dann, wenn Harry zufällig erfuhr, dass er am Weihnachtsabend im Haus gewesen war und nicht bei ihm vorbeigeschaut hatte.

Eine Wut, die so bitter war, dass er gar nicht wusste, wie er darauf reagieren sollte, machte sich in ihm breit und er rollte sich um die Wärmflasche zusammen, presste sie sich an den Bauch und ließ den Tränen freien Lauf, die er so lange zurückgehalten hatte. Wenn er Harry heute Nacht verloren hatte, dann geschah es ihm recht – er war einfach zu doof, richtig zu handeln und wenn das die Konsequenzen daraus waren, dann musste er jetzt sehen, wie er damit klarkam.

Dezember - März

Weihnachten ging vorbei und auch Sylvester verging, ohne dass Louis groß Notiz davon nahm.

Er fuhr jeden Morgen in die Suchtstelle, den Kopf voll mit dem, was heute anstand, beriet Junkies, Alkoholiker, Teenager, die von Zuhause abgehauen waren und Banker, die ohne ihre tägliche Line Kokain nicht mehr richtig funktionierten. Nach wie vor erschreckte es ihn, dass die Drogensucht offenbar durch fast alle Gesellschaftsschichten zu gehen schien. Die „Kunden" wenn man sie so nennen wollte, schätzten seine Arbeit und manche hatten sich so sehr an ihn gewöhnt, dass sie sich von Niemand anderem mehr beraten ließen. „Nein, wenn Tomlinson nicht da ist, dann komme ich lieber morgen wieder." Das bekamen die Kollegen häufig zu hören, wenn Louis einmal frei hatte und nicht im Büro war.

„Es ist wirklich krass, wie schnell du das Vertrauen der Leute bekommen hast, Louis." sagte Tony Anfang März an einem Nachmittag, während sie gemeinsam vor dem Gebäude auf dem Bürgersteig standen und die ersten warmen Sonnenstrahlen genossen, die auf die Stadt fielen. Tony hatte eine Zigarette zwischen den Lippen und schüttelte gerade seinen langen Pony zurück, um sie sich anzünden zu können. Louis nahm einen Schluck seines Kaffees und zuckte mit den Schultern: „Ich hab keine Ahnung, was die Leute an mir finden." - „Oh ich glaube, dass ich weiß was es ist." sagte sein Kollege, lehnte sich gegen die Backsteinmauer und scharrte mit den Füßen ein paar kleine Steinchen auf dem Bürgersteig hin und her. „Na was denn? Sag schon." drängte ihn Louis und lächelte, weil Tony ein solch großes Ding darum machte. „Naja ich glaube, dass sie in dir eine Art Verbündeten sehen." sagte er und hob eine Augenbraue in der ein Ring steckte. Tony war optisch das komplette Gegenteil von Louis: sein Haar war dunkel und immer perfekt gestylt, seine Arme stark mit symmetrischen Symbolen tättoowiert, er war ziemlich schlank, trug nur Schwarz und schminkte seine Augen dunkel. Vielleicht machte er manchen Kunden mit seiner Optik ja Angst und sie kamen deswegen zu Louis. Als er das feststellte, lachte Tony nur und schüttelte den Kopf: „Nein, ich glaube eher, dass sie sich in dir wiederfinden. Du bist ja quasi auch ein Süchtiger, der mit dem Verlust seiner Droge klarkommen muss." Diese Worte schlugen bei ihm ein, wie eine Bombe und die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag.

Er war in gewisser Weise auch ein Junkie und seine Droge war Harry.

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