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Oktober – Dezember

Louis litt. Jeden Tag.

Er bereute nicht, dass er gegangen war, doch er dachte jeden Tag an Harry.

Wie es ihm wohl ging? Hatte er es halbwegs verkraftet, dass Louis das Hilfswerk zu seinem Wohl verlassen hatte? Wie lief es mit Nick? Louis hatte anfangs jeden Tag mit seinem Exkollegen telefoniert und sich nach Harry erkundigt. Es ging einfach nicht anders, er musste es einfach wissen. „Er liegt in seinem Zimmer und redet mit Niemandem." hatte Nick einmal gesagt, als sie miteinander gesprochen hatten. „Ich habe zwar versucht, ihn zu irgendwas zu animieren, doch er hat nicht mitgemacht. Eigentlich liegt er den ganzen Tag in seinem Bett und starrt die Wand an. Er isst auch nichts." Als Louis diese Worte gehört hatte, war er kurz davor gewesen, zum Hilfswerk zu fahren, doch er wusste genau, dass es das nicht besser machen würde. Wenn er Harry jetzt sah, dann würde das Ganze sicherlich nur noch schlimmer werden, also hatte er sich zurückgehalten, egal wie schwer es ihm gefallen war. Also blieb Louis Zuhause und dachte pausenlos an den Lockenkopf – hoffte einfach, dass es ihm bald besser ging.

Seine neue Arbeitsstelle war schön und die Kollegen nahmen ihn sehr nett bei sich auf, sodass er sich bald eingelebt hatte. Wie Liam ihm gesagt hatte, war dieser Job eher eine Schreibtischtätigkeit, doch das störte Louis nicht. Die Menschen, die zu ihnen kamen, waren alle offen dafür, eine Veränderung in ihrem Leben vorzunehmen und dankbar für jeden Tipp, den sie von den Mitarbeitern bekamen. Louis hatte bereits in der ersten Woche einem älteren Mann, der auf der Straße lebte, einen Aushilfsjob vermitteln können, bei dem er richtig aufging und wodurch seine Chancen, sein Leben unter Kontrolle zu bekommen, wieder viel besser standen. Seine Kollegen, Peter, Katie, Juilana, David und Tony waren alle sehr nett und unternahmen viel miteinander. Ab und zu ging Louis nach Feierabend mit ihnen mit in einen Pub oder einen Club und versuchte wieder Spaß zu haben. Doch irgendwie schien es ihm, als hätte sein Gehirn vergessen, wie das ging. Klar gab es ab und zu lustige Momente in denen er lachen musste, aber diese dauerten nicht sonderlich lange an und er verfiel wieder in betrübtes Schweigen. Das blieb natürlich auch seinen Kollegen nicht verborgen und an einem Abend erkundigten sie sich nach dem Grund seines Tiefs. Weil Louis schon einige Bier intus hatte, erzählte er ihnen die Geschichte von Harry und sie waren allesamt so ergriffen, dass Katie mehrmals eine kleine Träne beiseite wischen musste. „Wow, das ist echt hart man." sagte Tony, legte Louis den Arm um die Schulter und drückte ihn aufmunternd an sich. „Ja, das ist verdammt scheiße. Ich kann ihn ja nicht mal besuchen, weil ich nicht will, dass er abgelenkt ist. Aber ich muss jeden Tag an ihn denken." sagte Louis und leerte sein Bier in einem Zug, um dann das leere Glas auf den Holztisch zu knallen. „Ich weiß, dass dir das vielleicht jetzt gerade nicht sonderlich hilft, aber die Zeit heilt alle Wunden und in ein paar Monaten wird es dir schon viel besser gehen, da bin ich sicher." sagte Juliana mitfühlend.

Doch es ging nicht besser.

Was aber vielleicht auch daran lag, dass Louis gar nicht wollte, dass es besser wurde. Er war der Meinung, dass er leiden musste. Schließlich war er es gewesen, der Harry wehgetan hatte und da war es nur gerecht, wenn er jetzt auch daran zu knabbern hatte. Ab und zu schrieb er Grimmy noch eine SMS, um sich nach Harry zu erkundigen und jede Antwort, die er bekam, versetzte ihm noch einen zusätzlichen Stich, denn meistens klangen die Nachrichten so:

Grimmy: „Es wird langsam, aber er hat oft gerötete Augen, wenn ich ihn morgens beim Frühstück sehe. Er isst nicht viel, dafür powert er sich beim Boxen aus und scheint dort den ganzen Frust auszulassen. Ich passe auf ihn auf, mach dir keine Sorgen."

Louis meldete sich freiwillig dafür, an den Weihnachtsfeiertagen den Dienst zu übernehmen. Seine Kollegen konnten nach Hause fahren und ihre Familien sehen, während Louis nicht danach war, seinen Geburtstag am 24.Dezember Zuhause in Doncaster zu feiern. Seine Familie würde nur fragen, wie es ihm ginge und er würde diese Frage nicht mit einem fröhlichen „gut" beantworten können, deswegen umging er das lieber.

Stattdessen saß er an diesem Tag im Büro, vertrieb sich die Zeit mit dem Lesen von Zeitschriften und hörte Weihnachtslieder im Radio. Heute hatte sich Niemand hier in die Suchtstelle verirrt und Louis war kurz davor, die Tür zu verriegeln und Feierabend zu machen, als sein Handy klingelte. „Ja?" er konnte nicht verhindern, dass er ein wenig genervt klang. „Hey Louis, ich bins El! Wir feiern Weihnachten im Hilfswerk...ich wollte fragen, ob du auch kommen möchtest. Wir wollen Raclette machen und einfach gemütlich zusammen sein. Ich hab Liam gefragt und er hat natürlich nichts dagegen, dass du kommst. Willst du?" Eingestehen wollte er es sich nicht, doch er freute sich sehr über die Einladung und darüber, dass die Kollegen an ihn gedacht hatten. „Ich hab jetzt gleich Schluss...dann mache ich mich auf den Weg...danke für die Einladung El. Ähm sag mal, aber Harry ist..." - „Das kleine Abendessen ist nur für Mitarbeiter, Louis. Keine Angst." beruhigte sie ihn. „Ich hab keine Angst...ich will nur nicht, dass es Harry wieder zurückwirft, wenn er mich sieht...naja." - „Harry wird in seinem Zimmer bleiben, da musst du dir keine Sorgen machen." sagte sie und lachte: „Dann mach dich mal auf den Weg, sonst ist der ganze Glühwein schon alle." Im Hintergrund war das Klingen von Gläsern zu hören und sie legte auf.

Obwohl es erst Heilig Abend war, war in der Stadt nur noch wenig los und Louis hatte die U-Bahn mal wieder für sich allein. Je näher er dem Hilfswerk kam, desto mulmiger wurde ihm und er überlegte mehr als einmal, ob er nicht doch noch absagen und umdrehen sollte, doch er brachte es nicht über sich und stieg letztendlich doch an der richtigen Haltestelle aus. Wie seltsam es war, wieder diesen Bürgersteig entlang zu gehen, an den vertrauten Geschäften und Imbissen vorbei zu laufen und doch genau zu wissen, dass man nicht mehr hierher gehörte. In den Schaufenstern glitzerte kitschige Dekoration und bunte Lämpchen blinkten ihm von überall entgegen.

Als das Hilfswerk in Sicht kam, beschleunigte sich sein Herzschlag auf ungesunde Weise. Louis blieb kurz stehen und musterte die vertraute Tür, an der ein „Merry Christmas" Schild hing, wobei er versuchte auszublenden, dass sich hinter eben dieser Tür sowohl seine Kollegen, als auch Harry befanden. Vielleicht war er gerade in diesem Moment auf der Treppe nach oben und wenn Louis jetzt eintrat, würden sie einander sehen. Es war jetzt 14 Wochen her, seitdem er gekündigt hatte – das waren 98 Tage. 98 Tage in denen Louis Harry nicht berührt hatte, ihm nicht hatte sagen können, wie sehr er ihn liebte und wie leid es ihm tat, dass er gegangen war. 98 Tage in denen er gelitten hatte und häufig kurz davor gewesen war, einfach ins Hilfswerk zu spazieren und es auf der Suche nach Harry auf den Kopf zu stellen. Doch der Wunsch, dass es Harry schaffte, clean zu werden war größer gewesen und er hatte sich am Riemen gerissen und seinen Plan nicht wahr gemacht.

Langsam wurden seine Finger taub und er zitterte vor Kälte, sodass er die Tür aufdrückte und den schmalen Flur betrat. Von der Tür flochten sich Lichterketten an der Wand entlang und leuchteten ihm so den Weg bis zum Gemeinschaftsraum, von wo aus schon das Summen einiger Stimmen zu hören war.

Louis folgte den Lichtern und dem Gelächter, das er hören konnte. Unter der Tür fiel ein Lichtstrahl hindurch und er konnte die Schatten der Kollegen sehen, wenn Jemand innen an der Tür vorbei ging.

„Louis! Alles Gute zum Geburtstag!" quietschte Eleanor, und hüpfte auf ihn zu, kaum dass er den weihnachtlich geschmückten Raum betreten hatte. Sie trug ein dunkelrotes Strickkleid mit Pelzkragen, dunklen Strümpfen und High Heels, stöckelte zu ihm und umarmte ihn fest. In der Hand hielt sie ein Glas Glühwein, der offenbar nicht ihr erster war, denn ihre Wangen waren schon ganz gerötet. „Danke, El." sagte Louis und drückte sie ebenfalls an sich.

Es war wirklich schön, wieder hier zu sein und vielleicht, bekam er den Lockenkopf ja auch noch zu sehen.

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