22.

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Gegen Mittag versuchte Louis seinen Schützling dazu zu überreden, etwas zu essen, doch er verweigerte es. Ob seine Appettitlosigkeit am Entzug oder an seiner Sorge um Zayn lag, konnte Louis nicht sagen, doch er fragte nicht noch einmal nach und ließ Harry ihn Ruhe, um selbst etwas zu essen.

In dem kleinen Gemeinschaftsraum machte er sich eine Dose Ravioli auf und erhitzte alles in der Mikrowelle. Das war der Nachteil, wenn man einen Junkie zu betreuen hatte: es gab viel zu wenig Zeit, um sich etwas Vernünftiges zu Essen zu kochen und man ernäherte sich zwangsläufig ziemlich ungesund, was Louis überhaupt nicht gerne machte. Aber gerade blieb ihm nichts anderes übrig, als zu Fertiggerichten zu greifen, denn er konnte Harry noch nicht lange allein lassen. Er traute sich ja gerade so, das Zimmer zum Essen zu verlassen.

Die Mikrowelle gab das typische „pling" von sich und im selben Moment ging die Tür auf und Eleanor kam herein. Auch sie hatten Pause. „Hey, na wie läufts?" fragte seine Kollegin und zog sich eine Apfelsine aus dem Kühlschrank, setzte sich damit an den Tisch und begann sie zu schneiden. „Das wollte ich dich auch gerade fragen." sagte Louis und grinste sie an. „Aber ich hab zuerst gefragt." grinste sie und so fing Louis an über Harry zu berichten: „Er hat Schmerzen und leidet – natürlich. Aber er schlägt sich ziemlich wacker muss ich sagen. Er hat zwar einmal die Küche zerlegt und heute Morgen musste ich ihn erst einmal in die Dusche verfrachten, weil gebrochen hat und völlig eingesaut war. Eigentlich machte er alles durch was man im Lehrbuch so unter Entzugserscheinungen findet, aber ich bin da optimistisch, dass er es schafft." Eleanor seufzte mitfühlend: „Armer Kerl. Also Rebecca scheint das Schlimmste überstanden zu haben. Sie macht jetzt ihre Therapie und öffnet sich langsam. Ich hab eine ganze Weile gebraucht, bis sie wirklich mit mir gesprochen hat. Anfangs habe ich mit ihr Bilder gemalt, damit sie sich darüber leichter ausdrücken kann. Was ist eigentlich mit Perrie?" erkundigte sie sich.

Perrie war mittlerweile ziemlich selbstständig und war kurz bevor Harry ins Hilfswerk gekommen war, ausgezogen. Es gab in London noch einige betreute WGs für Ex Junkies, die vom selben Träger betreut wurden, wie das Hilfswerk in dem sie arbeiteten. Nach und nach wurden die Jugendlichen selbstständiger und bekamen immer weniger Betreuung, sodass sie nach etwa zwei Jahren auf eigenen Beinen stehen konnten. Perrie hatte nun den ersten Schritt gemacht, indem sie ein Zimmer in einer Mädchen WG bezogen hatte und nun nicht mehr Rund um die Uhr unter Beobachtung stand. Louis war froh darüber, denn wenn er zu Harry auch noch Perrie hätte betreuen müssen, wäre das ziemlich anstrengend geworden.

Genau das sagte Louis seiner Kollegin und sie strahlte ihn an:

„Ach, das ist so schön, wenn man weiß, dass die Arbeit funktioniert und die Jugendlichen wieder auf den richtigen Weg zurückfinden." Louis nickte und schob sich die letzte Gabel seiner Ravioli in den Mund. Draußen im Treppenhaus waren Schritte zu hören, doch sie schenkten ihnen keine Bedeutung.

Vermutlich waren Niall und Liam von ihrem Ausflug im Museum zurückgekommen. Louis beschloss, Niall später mal zu fragen wie es gewesen war.

Nachdem Louis sein Geschirr abgespült und zurück in den Schrank gestellt hatte, flätzte er sich noch einen Moment auf seinem Stuhl, bevor er sich auf den Weg zurück zu Harry machte. Es hatte gut getan, eine Stunde Pause machen zu können um seine Gedanken neu zu ordnen und mit freiem Kopf wieder an die Arbeit zu gehen. Gut gelaunt betrat Louis die WG und klopfte leise an Harrys Tür. Vielleicht hatte er es ja doch geschafft zu schlafen, denn er bekam keine Antwort.

Louis drückte die Klinke herunter und trat ein.

Das Zimmer war leer.

Sein Herz machte einen nervösen Hopser und ihm wurde vor Schreck ganz heiß. Vielleicht war Harry ja im Bad? Mit schnellen Schritten, fast rennend hetzte Louis über den Flur ins Badezimmer. Auch dort war Niemand. Irgendwie hatte er es sich schon fast gedacht. „Scheiße...." er lehnte sich gegen die Wand und drückte sich zwei Finger auf die Augen. Er durfte jetzt nicht den Kopf verlieren, denn das wäre das Schlechteste, was er jetzt tun konnte. Nachdem er einige Male tief Luft geholt hatte verließ er die WG.

Eleanor saß noch im Gemeinschaftsraum, als er hereinplatzte.

„Louis, was ist los? Ist was mit Harry?" - „Er ist weg..." keuchte Louis und riss seine Jacke vom Haken an der Tür. „Was??"- „Jaaa ich hab keine Ahnung...ich denke er hat den Schmerz nicht mehr ausgehalten und will sich jetzt sicherlich neuen Stoff besorgen. Wieso hab ich Hornochse ihn nur allein gelassen?" er zerrte seinen Ruchsack unter dem Tisch hervor, sah noch einmal nach, ob sein Handyakku geladen war und verließ dann das Zimmer mit den Worten: „Ich bin weg. Ich muss ihn suchen." - „Ich bleibe hier, falls er zurückkommt!" rief Eleanor ihm nach und Louis gab ihr nur noch ein Handzeichen, dass er verstanden hatte.

Wo sollte er anfangen? Er hatte keine Ahnung, wohin Harry gegangen sein könnte. Zwar kannte Louis die einschlägigen Orte der Drogendealer in der Nähe ganz gut, doch er war sich sicher, dass Harry soweit denken konnte. Vermutlich würde er seinen Stoff an einem geheimen Ort besorgen, der nicht so bekannt war und Louis stand jetzt da und wusste nicht wohin er zuerst gehen sollte. Da fiel ihm ein, was Harry gesagt hatte, als sie vorhin an der frischen Luft waren: „Ich will ja nicht in den Park..." Ein Park befand sich hier in der Nähe und wenn er ein wenig schneller ging, könnte er ihn in 10 Minuten erreichen. Mit klopfendem Herzen und einer Angst, die ihm fast die Kehle abschnürte, machte sich Louis auf den Weg.

Der Park war groß und schien Louis unendlich zu sein, als er am Eingang stand und auf den Kiesweg blickte, der in geschlungenen Pfaden an hohen Bäumen vorbei ins Innere führte. Eine Stunde würde er sicherlich brauchen, um alle Wege abzulaufen und wenn er genauer darüber nachdachte, erschien ihm die ganze Idee ziemlich hirnrissig. Die Chance, dass er Harry fand, der sicherlich aufmerksam Ausschau halten würde, stand gegen Null. Doch was hatte er schon für eine andere Möglichkeit? Jogger, Radfahrer, Mütter mit Kinderwagen und Hundebesitzer kreuzten seinen Weg, als er suchend durch den Park ging, doch von einem dunkelhaarigen Jungen in Jogginghose war weit und breit nichts zu sehen.

Louis suchte jeden Winkel ab, sah sogar unter einigen Büschen nach, doch er war erfolglos und der Knoten in seiner Brust schien sich immer fester zu ziehen. Er hatte Angst um Harry.

Der Junge hatte fast zwei Tage ohne Drogen ausgehalten. Wenn er sich jetzt neuen Stoff besorgte, könnte es passieren, dass er eine Überdosierung bekam, weil der Körper die Menge schon jetzt nicht mehr gewohnt war. Louis schlug sich die Hände vors Gesicht und lies sich auf eine Bank fallen – er machte sich solche Vorwürfe. Wieso hatte er seine verdammten Ravioli nicht in Harrys Zimmer essen können? Nein, er hatte ja unbedingt ein wenig Zeit für sich gebraucht. Wie egoistisch konnte man eigentlich sein? Eigentlich hätte er über genug erfahrung verfügen müssen, um zu wissen, dass man einen Junkie nicht aus den Augen lassen sollte. Zumindest nicht am Anfang. Auf der anderen Seite war Harry auch nicht abgehauen, als Eleanor einige Stunden nach ihm gesehen hatte und da war sie gewiss nicht rund um die Uhr bei ihm gewesen, denn sie hatte sich ja noch um Rebecca kümmern müssen.

„Harry, wo bist du? Mach bloß keinen Scheiß..." flüsterte Louis, riss sich zusammen, stand wieder auf und setzte seine Suche fort.

Wie suchte man nach Jemandem, der nicht gefunden werden wollte und dessen Weg man nicht kannte? Jeder Schritt, den Louis unternahm, erschien ihm sinnlos, denn er wusste nie, ob es richtig war, wohin er gerade ging. Den ganzen Tag stapfte er durch die Stadt und an einschlägigen Orten vorbei, doch Harry konnte er nicht finden. Auch von Zayn keine Spur. Vielleicht waren sie gemeinsam untergetaucht? Vielleicht hatte Harry seinen Freund um Verzeihung und Hilfe gebeten und sie waren zusammen fortgegangen, damit Louis sie nicht wieder in die Finger bekam?

Oder es war etwas passiert.

Den Gedanken wollte Louis eigentlich gar nicht genauer ausführen, denn ansonsten würde er sich die schlimmsten Szenarien ausmalen und sicherlich heute noch eine Panikatacke bekommen.

Way OutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt