Die nächsten Stunden verbrachte Louis wie in Trance. Er saß bewegungslos auf seinem Stuhl und starrte geradeaus. Wer jetzt am Fenster vorbeiging und einen Blick hineinwarf, hätte ihn auch für eine Puppe halten können. Immer wieder zog er den Zettel aus der Tasche, den Harry ihm gegeben hatte und starrte darauf, um sich selbst zu versichern, dass es kein Traum gewesen war, sondern er Harry wirklich wieder gesehen hatte. Nach eineinhalb Jahren.
Und was hatte er sich verändert. Er sah so unglaublich gut aus und er war...ein Mann geworden. Louis rechnete im Kopf zurück, ja Harry musste jetzt kurz vor seinem 21.Geburtstag stehen. Wow. 21. Diese Zahl klang in Verbindung mit Harry so unglaublich attraktiv und Louis grinste in sich hinein, während er die Telefonnummer auf dem Zettel wieder und wieder ansah. Eigentlich würde er sie gar nicht mehr einspeichern müssen. Er hatte sie so oft gelesen, dass er sie sicherlich schon auswendig kannte, doch natürlich speicherte er sie sich trotzdem im Handy ab. Ob er ihm schon schreiben sollte? Vielleicht arbeitete Harry ja noch? Oder sollte er erst noch ein bisschen warten, bevor er sich meldete? Nein, er konnte nicht warten. Er musste ihm jetzt schreiben. Mit zitternden Händen öffnete er einen neue Nachricht und dachte einen Moment darüber nach, was er schreiben könnte. Schließlich wurde es ein schlichtes:
L: „Na, schon Feierabend? Es war unglaublich, dich heute wieder zu sehen. Lou."
Nervös auf der Unterlippe kauend, starrte er sein Handy an und wartete darauf, dass Harry die Nachricht gelesen hatte und als endlich zwei blaue Häkchen hinter der Sprechblase erschienen, setzte sein Herz fast aus. Harry hatte sein Handy gerade in der Hand und las seine Nachricht!
Jetzt erschien „schreibt..." unter seinem Namen und Louis hätte das Handy am Liebsten geschüttelt, um das Ganze zu beschleunigen, doch Harry schrieb eine ganze Weile. Bestimmt bekam er jetzt gleich einen ganzen Aufsatz. Mit einem Plopp, ging seine Nachricht bei Louis ein und er sah enttäuscht den kurzen Satz an.
H: „Bin noch arbeiten. Ich habe Schicht bis 6. Kann's noch gar nicht glauben, dass ich dich gesehen habe. H"
Dafür hatte Harry so lange getippt? Louis hob eine Augenbraue, doch dann fiel ihm ein, dass der Lockenkopf vielleicht genauso unschlüssig darüber gewesen war, was er hätte schreiben können und seinen Text mehrmals gelöscht hatte.
L: „Was machst du nach Feierabend? Ich hab auch um 6 Schluss. Wollen wir frühstücken? Ich kann dann sowieso nicht schlafen. Lou"
Dieses Mal kam die Antwort sofort.
H: „Klar gerne. Ich hole dich ab. Kann's kaum erwarten. H"
Louis konnte es auch kaum abwarten, dass die Uhr endlich 6 schlug und Katie kam um ihn abzulösen. In ihm kribbelte alles in erwartungsvoller Vorfreude. Wie würde Harry sein? Wie ging es ihm und was hatte er zu berichten? Ob er ihm noch böse war? Bereits um 5:30 Uhr hatte Louis seine Sachen zusammengepackt und saß auf der vordersten Kante seines Stuhls, starrte auf die Eingangstür, wo es immer noch dunkel war und wartete darauf, dass seine Kollegin endlich auftauchte. Als es dann endlich soweit war und Katie in den Eingangsbereich trat, stand Louis bereits fertig angezogen da und klopfte mit den Fingern nervös gegen die Wand, an der er sich abgestützt hatte. „Morgen Louis. Hast du es so eilig nach Hause zu kommen? Du stehst ja da, wie ein Sprinter vor dem Startschuss." lachte sie und umarmte ihn. „Nein ich will nicht nach Hause, ich bin noch verabredet." quasselte Louis los und grinste sie breit an. „Verabredet? Jetzt? Mit wem denn?" - „Mit dem heißesten Mann der Welt." sagte Louis entschlossen und sah an ihr vorbei zur Tür. Hoffentlich kam Harry bald. „Der heißeste...aber ich dachte, du liebst diesen Junkie..." - „Jep...und ich habe ihn heute Nacht wieder getroffen. Er ist jetzt beim Rettungsdienst." - „Rettungs...moment, Louis gab es hier heute Nacht einen Notfall?" fragte sie erschrocken und hielt inne. „Ja und Harry kam dann..." - „Ja, aber was für ein Notfall?" - „Stichwunde..." sagte Louis verträumt, als wäre es das Schönste auf der Welt einen solchen Notfall zu behandeln. „Okay ich merke schon, aus dir ist nicht sonderlich viel rauszubekommen." seufzte Katie, lächelte und klopfte ihm auf die Schulter: „Hab einen schönen freien Tag morgen." Louis nickte abwesend. Immer nach der Nachtschicht, gab es einen Tag frei, damit man sich erholen konnte. Doch ihm schien, als bräuchte er jetzt keinen Schlaf. Harry würde ihm schon genügen.
Und dann tauchte er plötzlich vor der Tür auf.
Er trug einen dunkelgrünen Parka, hatte eine blaue Mütze auf dem Kopf und trug noch immer die rote Hose des Rettungsdienstes, sowie die Sicherheitsschuhe. Er trat an die Glastür heran und klopfte sacht an das Glas. „Bin weg!" rief Louis und musste sich sehr zusammenreißen, nicht quer durch die Eingangshalle zu rennen.
„Guten Morgen." sagte Harry, als er vor ihm stand und sah auf ihn hinunter. „Wächst du noch, oder hast du dein Ziel schon erreicht?" fragte Louis und sah zu ihm hoch. Er war fast einen Kopf größer, das war ziemlich ungewohnt. „Nee, ich glaub ich bin schon angekommen." antwortete Harry grinsend und Louis fiel auf, dass der Ring in seiner Lippe fehlte. „Wo ist dein Ring?" - „Musste raus. Der Rettungsdienst hat sowas nicht gern." erwiderte Harry und nickte in Richtung Straße: „Wollen wir los? Ich hab Hunger." Louis hätte ihn am Liebsten umarmt, doch irgendwie schien es gerade noch nicht angebracht zu sein, also ließ er es bleiben und ging neben Harry her. „Wohin gehen wir?" fragte er nach ein paar Metern." - „Es gibt ein paar Stationen von hier ein Pub, das ein ziemlich leckeres Frühstück anbietet." sagte Harry und sie betraten eine U-Bahn Station.
Sie stiegen in die Bahn, die zum Glück noch nicht so voll war und fuhren einige Stationen, bis sie ein wenig außerhalb in einer ruhigeren Wohngegend ankamen. „Wow, das ist ja fast schon, spießig." meinte Louis, als sie aus der Station traten und er die vielen Reihenhäuser sah, die noch in völliger Dunkelheit dalagen. In manchen Fenstern brannte schon vereinzelt Licht, ansonsten war es überall noch still. „Naja, ich konnte mir nichts Zentraleres leisten. Ich hab hier auch nur eine Einzimmer-Wohnung, aber immerhin habe ich sie für mich allein." sagte Harry und Louis konnte einfach nicht fassen, wie erwachsen und selbstständig er geworden war. Er hatte wirklich eine tolle Entwicklung hinter sich.
Vor einem hellen Eckhaus mit dunkelgrünen Fensterläden blieb Harry stehen: „So, da sind wir." sagte er und öffnete schwungvoll die Tür, sodass Louis hindurchgehen konnte. Im Pub war es heimelig und das Licht war einladend. Auf den Tischen brannten Kerzen und es sah aus, als hätte sich hier seit 200 Jahren nichts verändert. Harry ging Louis voraus an einen Platz in einer Ecke, zog einen Stuhl zurück und als Louis sich auf den gegenüber setzen wollte, sagte er: „Eigentlich war dieser hier für dich gedacht." - „Oh...ähm danke." ein wenig verlegen, weil Harry ihm den Stuhl zurückgezogen hatte, setzte er sich und zog seine Jacke aus. Der Rettungsassistent tat es ihm gleich und hängte seine Jacke über die Stuhllehne. Eine Frau trat an ihren Tisch heran: „Guten Morgen. Sie nehmen das Frühstück?" fragte sie und Harry nickte: „Ja sehr gerne. Ich bekomme einen Earl Grey dazu bitte." - „Und ich einen Yorkshire." sagte Louis, ohne dabei den Blick von Harry abzuwenden, der abwesend in die Kerzenflamme des Teelichts auf ihrem Tisch starrte. Kaum war die Bedienung weg, fragte er: „Wie geht es dir?" Dabei sah er Louis in die Augen und in seinem Blick lag so viel Unausgesprochenes, dass dieser einen Moment nicht genau wusste, wo er anfangen sollte.
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Way Out
FanfictionLondon - Touristenmagnet und schillernde Metropole. Aber auch Heimat von Hoffnung und Hilflosigkeit. Louis arbeitet als Streetworker und hat es sich zur Aufgabe gemacht, Jugendlichen, die auf der Straße leben, eine neue Perspektive zu bieten. Harr...